Rattengeschichten - Lucy

Meine kleine Lucy war merkwürdig still geworden die letzten zwei Tage. Ich nahm sie hoch und sah sie prüfend an. Äußerlich konnte ich nichts erkennen... ..Ich fing an, ihren kleinen Körper abzutasten. Als ich ihren Bauch berührte, fuhr mir der Schreck in die Glieder! Er fühlte sich steinhart an! Panisch ergriff ich Mary um zum Vergleich ihren Bauch abzutasten - alles weich! Auch bei allen anderen Ratten, keine harte Stelle am Bauch zu fühlen. Immer wieder versuchte ich mich in Gedanken damit zu beruhigen, dass es bestimmt nur eine Verstopfung wäre, aber eine dunkle Ahnung erstickte jeden Ansatz eines Hoffnungsschimmers im Keim.

Ich hatte schreckliche Angst, denn ein harter Bauch und noch dazu bei einer weiblichen Ratte konnte nichts Gutes bedeuten.

Es war Sonntag abend und ich rief eine Tierärztin an, die auch am Wochenende erreichbar war. Ich erklärte ihr die Situation und sie meinte, ich könne versuchen, Lucy Paraffinöl einzugeben, falls es eine Verstopfung wäre, müsse sie sich damit beheben lassen. Ich hatte nicht viel Hoffnung, wollte aber nichts unversucht lassen, Lucy zu helfen. Ich setzte meine Kleine in einen Krankenkäfig, um zu sehen, ob sie Kot absetzen konnte und gab ihr das Paraffinöl ins Mäulchen.

Am nächsten Morgen trat ein, was ich bereits befürchtet hatte, Lucy konnte zwar Kot absetzen, aber ihr Bäuchlein war nach wie vor hart. Ich rief daraufhin noch einen anderen meiner Tierärtzte an, der auch häufiger Ratten von mir operiert und machte einen Termin für den Abend aus. Um 17.00 Uhr angekommen, mussten wir noch einige Minuten warten. Mir war übel und ich hatte schreckliche Angst um meine kleine Lucy. Dann wurde sie untersucht. Der Tierarzt tastete Lucys Bauch ab und meinte mit ernstem Gesicht, das wäre wohl ziemlich sicher tumoröses Gewebe und er glaube nicht, dass er für mein Rättlein noch viel tun könne.

Ich war den Tränen nahe, was er zu bemerken schien. Mit weinerlicher Stimme fragte ich ihn, ob er denn überhaupt nichts mehr für sie tun könne. Er lenkte ein, er könne sie operieren und nachsehen, wie es in ihrem Bauch aussieht. Wenn es so wäre, wie er befürchte, dann bekäme sie eine Überdosis des Narkosemittels und würde eben nicht mehr aufwachen.

Ein winziger Funke Hoffnung keimte in mir auf und ich war einverstanden. Er bat uns, noch einige Minuten im Wartezimmer Platz zu nehmen, da er noch einen Hund und zwei Katzen behandeln müsse.

Jede Minute des Wartens kam mir vor wie eine Ewigkeit! Lucy saß währenddessen ganz still auf meiner Brust und hielt sich mir ihren kleinen Händchen an mir fest.Mit ihren tiefschwarzen Kulleraugen betrachtete sie mich aufmerksam. Zärtlich streichelte ich ihr kleines Köpfchen, vielleicht ein letztes Mal... ..Dann war es endlich soweit, im Behandlungszimmer setzte ich Lucy an den Narkoseapparat und verließ den Raum.

Nach 15 Minuten kam der Arzt heraus und eröffnete mir die schreckliche Gewissheit - er konnte meiner kleinen Lucy nicht mehr helfen! Die Därme wären total mit tumorösem Gewebe verwachsen und spätestens nach 2 bis 3 Tagen wäre auch nichts mehr durch diese hindurchgegangen. Er wollte mir zeigen, wie es in Lucys Bauch aussieht, aber ich habe abgelehnt. Diesen Anblick hätte ich sicher nicht ertragen! Das kleine Ding, hilflos auf dem Rücken liegend mit offenem Bäuchlein... Nein! Ein unerträglicher Gedanke!

Ich meinte nur noch, ich wolle sie wieder mit nach Hause nehmen und der Arzt sagte mir, er würde ihren Bauch wieder zunähen und ihr dann eine Überdosis des Narkosemittels verabreichen. Dann holte er mich wieder herein. Er hatte Lucy in ein Tuch gewickelt. Das war gut so, denn im Moment wäre ich wohl sofort bei ihrem Anblick in Tränen ausgebrochen. Ich legte den kleinen Körper zurück in die Transportbox und kam gerade noch zum Auto, dann konnte ich die Tränen nicht mehr halten.

Zuhause angekommen wickelte ich Lucy aus und streichelte ihr über das weiche Fell. Es fühlte sich noch warm an. Sie lag da, als würde sie nur schlafen und jeden Moment erwachen. Doch ich musste mich damit abfinden, dass sie nie mehr mit den anderen herumtollen würde....

Sicher springt sie schon voller Freude und ohne Schmerzen mit ihren Freunden auf einer saftigen grünen Wiese jenseits der Regenbogenbrücke herum.

Meine Lucy, sie war gerade mal ein Jahr alt geworden! Ihr Tod ging mir besonders nahe, auch wenn sie keine der besonders anhänglichen Ratten war. Am schlimmsten für mich ist stets diese schreckliche Hilflosigkeit, der man immer wieder begegnet. Das Helfen wollen - aber nicht können.....Doch trotz all der Trauer, die uns im Leben mit unseren Ratten immer begleiten wird, so überwiegt doch die Freude, die diese faszinierenden Tiere uns Menschen mit ihrem reizenden Wesen täglich immer wieder aufs Neue schenken.

Zum Andenken an meine Lucy

Erika Weiß-Geißler,

Im Februar 1998