Rattengeschichten - Blacky |
So groß wie mein halber Daumen war er, als er mit seinem Schwesterchen zu mir kam. Blacky! Seine glänzenden Äuglein blitzten mich an und seine rosa Nasenspitze erhellte das rabenschwarze winzige Gesichtchen.
Lange habe ich nach einem passenden Namen gesucht. Peter meinte dann, wie wär's denn mit "Blacky" und spontan habe ich entschieden: _der_ Name passt zu ihm! Seine Schwester hingegen war cremefarben, fast weiß und ihr zarter Körper erinnerte mich an eine fein geschnitzte Figur aus Elfenbein. Ihren Namen jedoch verdankte sie ihrem stets "unauffälligen" Wesen: Mystery!
Die beiden hatten im Juni 96 in der Garage einer Futterrattenzucht das Licht der Welt erblickt. Ihre "kleine Welt" bestand aus einem engen Makrolonkäfig. Noch viele andere Ratten sitzen dicht an dicht gedrängt in ebensolchen Behältnissen. Die "Einrichtung" besteht aus einer Nippeltränke und einer dünnen Schicht Einstreu. Aufrichten können sich die Ratten in den engen flachen Käfigen nicht. Was es bedeutet, miteinander herumzutoben, zu spielen, das können Rattenkinder allenfalls dann kennen lernen, wenn sich jemand findet, der sich ihrer erbarmt, sie mit nach Hause nimmt und ihnen etwas schenkt, was alle anderen hier niemals spüren werden: Liebe! Fast alle Ratten ereilt das gleiche Schicksal, sie werden im Magen eines Reptils enden!
Ein guter Bekannter hat mir Blacky und Mystery vom Besuch einer Reptilienbörse mitgebracht, wo sie vom Züchter als Futtertiere angeboten wurden. So sind die zwei winzigen Fellbällchen nun bei mir gelandet. Nach kurzer Eingewöhnungszeit kosten sie es aus, viel Platz zum Spielen zu haben. So können sie nun toben, springen und klettern. Es ist einfach unbeschreiblich, ihnen bei ihren reizenden Spielen zuzuschauen, wie sie voller Übermut Bocksprünge vollführen oder als Knäuel über das Sofa kullern. Doch unseren Ratten ist leider nur eine allzu kurze Kinder- und Jugendzeit beschert und eh man sich versieht, ist es bald schon soweit, Abschied zu nehmen von den so lieb gewonnenen Hausgenossen.
Meiner kleinen Mystery war leider nur ein kurzes Leben beschieden. Schon bald musste ich mich von ihr trennen, auch der Tierarzt konnte ihre schlimme Krankheit nicht heilen. Blacky jedoch durfte sein Leben länger mit mir teilen. Doch auch er begann mit zunehmendem Alter zu kränkeln.
Blacky litt seit einigen Wochen an einer Infektion der Atemwege. Er bekam verschiedene Antibiotika, wobei keines mehr wirken wollte. Zeitweise hatte er verstärkt Probleme beim Atmen und konnte feste Nahrung, wie Körnerfutter, nur noch mit Mühe aufnehmen. Da er nachts auch nicht mehr im geschlossenen Käfig bleiben wollte - dieses Phänomen konnte ich auch schon bei anderen kranken Ratte beobachten - hatte ich ihn im Wohnzimmer auf dem Sofa untergebracht, wo er ohne Störung durch die anderen Ratten seinen Babybrei essen konnte, wann immer er wollte. Trotzdem hatte er stark abgenommen und war ganz mager geworden, was ich aber nicht zuletzt seinem hohen Alter zuschrieb, denn inzwischen war er fast 3 Jahre alt geworden.
Eines Tages bemerkte ich einen merkwürdigen Geruch aus seinem Ohr. Ich säuberte es und gab Ohrtropfen hinein, was ich an den folgenden zwei Tagen wiederholte. Danach war das Ohr wieder sauber und ich dachte, alles wäre wieder in Ordnung. Bis zu jenem Tag, als ich mittags vom Büro nach Hause kam...
Als ich das Wohnzimmer betrat, erschrak ich furchtbar. Blacky saß in seinem Iglu, alles war voller Blut, das Dach vom Iglu, das Küchenpapier, mit welchem es ausgepolstert war. Zunächst vermutete ich, das Blut käme aus der Lunge, doch bei näherem Hinsehen sah ich, dass er aus dem Ohr blutete. Ich rief meine Tierärztin an und fragte um Rat, erklärte ihr, dass meine Ratte zu alt und krank wäre und ich ihr einen Transport über mehrere Kilometer nicht mehr zumuten könne. Sie empfahl mir Ohrentropfen, die Peter kurze Zeit später bei ihr abholte. Ich hatte kein gutes Gefühl, träufelte ihm die Tropfen jedoch trotzdem ins Ohr. Seine Reaktion war deutlich, er schüttelte den Kopf und kratzte sich immer wieder, offensichtlich löste das Medikament ein Brennen aus. Wenig später verhielt er sich jedoch wieder völlig normal, aß wieder und schien offensichtlich keine Schmerzen zu haben. Zwei Tage später dann die erneute Katastrophe.
Blacky sitzt auf der Lehne des Sofas, er blutet stark aus dem Ohr, die Decke unter ihm ist bereits durchtränkt. Ich drücke ihm ein Kleenex auf sein Ohr, im Nu ist es voller Blut. Kurze Zeit später hört es auf zu bluten. Ich bin sehr erleichtert. An diesem und am nächsten Tag rührt Blacky jedoch sein Essen kaum an und schläft nur. Er wirkt aber nicht apathisch, sondern ist trotzdem aufmerksam. Hört er ein Geräusch, hebt er sein Köpfchen, um nachzusehen, woher es kommt. Mit Mühe schaffe ich es, dass er einige wenige Tropfen eisenhaltigen Saft und etwas von einem mit Brei vermischten Blutgerinnungsregulator aufnimmt. Ich freue mich riesig, als er am nächsten Tag wieder "normal" isst. Hoffnung keimt in mir auf.
Vier Tage später ist Peter zu Hause, da er einen Arzttermin wahrnehmen muss. Mittags klingelt bei mir im Büro das Telefon. Peter erzählt mir, dass er beim Nachhausekommen Blacky blutend im Wohnzimmer gefunden habe, inzwischen wäre die Blutung jedoch wieder zum Stillstand gekommen. Als ich eine Stunde später heimkam,sah ich gleich nach Blacky. Sein Ohr und seine ganze linken Körperseite waren total blutverkrustet. Mit einem Tuch versuchte ich, ihn vorsichtig etwas zu säubern. Ich hatte große Angst, es könnte wieder zu bluten beginnen.
Voller Sorge rief ich einen anderen Tierarzt an, denn die Ohrtropfen hatten, wie zu erwarten war, keine Besserung gebracht. Dieser meinte, bei einer so starken Blutung könne es auf keinen Fall eine Ohrentzündung sein, was ich natürlich schon vermutet hatte. Er tippte auf einen Polypen, der immer wieder aufplatzen könnte und es dadurch zu derart starken Blutungen im Ohr kommen kann. Er wollte mir ein blutstillendes Mittel schicken.
Blacky wirkte trotz seiner Erkrankung überraschend "stabil". Da er dennoch Probleme hatte, seinen Brei selbständig aus einer Schale zu essen, fütterte ich ihn daher seit einigen Tagen mit einem kleinen Löffel, was er sehr gut annahm. Ich war überglücklich und konnte es kaum fassen, dass er trotzdem zugenommen hatte. Wenn ich seinen Körper streichelte, spürte ich bisher immer die kleinen spitzen Knochen durch das weiche Fell ragen.
Sieben Tage sind inzwischen vergangen und in Gedanken habe ich Blackys Krankheit verdrängt...
Aber das Schicksal schlägt erbarmungslos zu: als ich am Mittag nach Blacky sehe, ist erneut alles voller Blut, die dicke Decke auf dem Sofa ist durchtränkt, der Fußboden, alles ist vollgespritzt, die Wand, die weiße Lampe, die auf dem Tischchen neben dem Sofa steht und es blutet noch immer! Ich drücke ein Papiertuch auf sein Ohr, es ist sofort voller Blut. Mit einer Pipette tröpfle ich das blutstillende Mittel hinein. Es hört auf zu bluten, aber Blacky ist ganz schwach, er hat furchtbar viel Blut verloren. Er liegt ganz ruhig in seinem Schlafsack. Ich wische notdürftig das Blut ab und sehe immer wieder nach ihm, er ist ganz ruhig, aber einige Zeit später fängt es wieder an zu bluten, nicht mehr so stark, trotzdem ich gebe noch einmal einige Tropfen des Medikamentes ins Ohr. Die Blutung lässt nach. Blacky liegt nur da! Immer wieder schaue ich nach, wie es ihm geht, als ich das nächste Mal wieder ins Zimmer komme, ist Blacky vom Sofa gefallen und liegt auf dem Fußboden.
Mein Herz klopft bis zum Hals! Ich habe große Angst um ihn! Ich werde Blacky verlieren! Ich nehme ihn auf. Er ist ganz kalt. Mit beiden Händen halte ich ihn fest und versuche, ihn mit meinem Atem zu wärmen. Er atmet ruhiger, schaut mich mit großen Augen an. Ich spreche leise mit ihm und versuche ihn zu beruhigen. Er atmet in immer größeren Abständen, liegt ganz ruhig da. Ich weiß, jetzt ist es soweit, Blacky wird mich für immer verlassen und ich kann nichts dagegen tun! Ab und zu macht er einen tiefen Atemzug. Immer wieder berühre ich mit meinen Lippen seinen Brustkorb, um zu spüren, ob er noch atmet. Ich beobachte sein Hinterfüßchen, es zittert leicht. Ich ahne, es wird nicht mehr lange dauern und obwohl ich weiß, dass es keine Hoffnung mehr gibt, versuche ich mich an jeden Strohhalm zu klammern, starre voller Zuversicht auf das zitternde Füßchen .......aber er hat zu viel Blut verloren...
Dann hört das Zittern auf, sein kleiner Körper liegt ganz ruhig da. Ich presse meine Lippen auf seine Brust, spüre nichts mehr. Nun habe ich ihn endgültig verloren! Die Tränen, die schon seit Minuten über mein Gesicht laufen, wollen nicht enden. Ich verspüre eine schreckliche Hilflosigkeit, eine tiefe Leere. Ich konnte ihm nicht helfen, konnte nichts tun, nur da sitzen und auf seinen Tod warten. Blacky hatte so viel ertragen, so tapfer gekämpft und dennoch: der Tod war stärker als sein kleines Herz. Nun hat es aufgehört zu schlagen. Ich halte ihn noch immer in meinen Händen, will ihn nicht loslassen.
Doch ich muss seine kleine Seele freigeben, frei für die Reise über die Regenbogenbrücke, dorthin, wo er all seine kleinen Freunde wiedertreffen wird und ein Leben ohne Leid und Schmerzen auf ihn wartet.
Leb wohl kleiner Blacky, der Abschied von Dir tut besonders weh. Ich werde Dich nie vergessen, werde mich immer daran erinnern, wie das Leben Deinen kleinen Körper verlassen hat, um dem Tod Platz zu machen. Doch in Gedanken wirst Du mich immer begleiten, und das gibt mir die Kraft, meine Liebe immer wieder neu zu verschenken, an andere kleine Seelchen, auch wenn ich weiß, dass es hier auf Erden nie für immer sein wird.
Doch wer jemals sein Herz an ein so liebenswertes Tier verloren hat, der wird verstehen, wie groß die Liebe zu einer kleinen Ratte sein kann, wird die innere Leere fühlen und wissen, wie schwer der Abschied fällt.
Bis bald, kleiner Blacky,
ich danke Dir für all die Freude,
die Du mir so lange bereitet hast.
Ich werde Dich nie vergessen!
Erika Weiß-Geißler,
Im April 1999