Rattengeschichten - Kein Weihnachtsmärchen |
Der Duft von frisch gekochtem Kaffee zog durch die Küche. Wir hatten Platz genommen zu einem gemütlichen Frühstück. Die Weihnachtsfeiertage waren vorüber und in den wenigen Urlaubstagen wollten wir uns vom Stress des Festes erholen. Ich wollte soeben in mein Marmeladebrötchen beißen, als das Telefon klingelte.
"Hier ist die psychologische Beratungsstelle, mein Name ist Meitner. Hier im Haus hat scheinbar vor den Feiertagen jemand zwei Ratten ausgesetzt. Das Tierheim hat mir ihre Telefonnummer gegeben. Könnten sie nicht einmal bei uns vorbeikommen? Wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen."
"Wo sind die Ratten denn jetzt im Moment?" fragte ich zurück. "Sie sind hier im Treppenhaus, weil sich keiner traut, sie einzufangen", bekam ich zur Antwort. Ich musste erst einmal schlucken. "Also gut, wir fahren gleich los. Es wird aber ein paar Minuten dauern, bis wir dort sind" erklärte ich Frau Meitner. Peter schaute mich fragend an und mit einigen Worten schilderte ich ihm die Sachlage. "Also gut", meinte er, "fahren wir los". "Einen Moment, ich muss ja noch eine Transportbox mitnehmen", entgegnete ich und schon starteten wir.
In der Eile hatte ich vergessen, in welcher Etage die Ratten "gefangen" waren. Als wir angekommen waren, fragte ich im Erdgeschoss an der Anmeldung nach dem Weg. "Ich habe vor einigen Minuten einen Anruf bekommen wegen den ausgesetzten Ratten". "Ja, ja, ich weiß Bescheid", meinte die nette Frau in der Rezeption. "Kommen sie nur gleich mit, ich bringe sie in den ersten Stock zu Frau Meitner, die wird ihnen zeigen, wo die Tiere sind". Eine elegante Dame kam uns auf der oberen Etage entgegen. "Ich bin Frau Meitner, kommen sie, ich zeige ihnen die Ratten". Aufgeregt fuchtelte sie mit ihren Armen herum. Wir gingen den Gang entlang und machten vor einer Tür Halt. "Hier ist es", meinte sie. "Machen sie nur die Tür gleich wieder zu, damit sie nicht entwischen können". Sie erklärte mir, dass die armen Tiere sicher bereits vor den Feiertagen hier ausgesetzt worden sein mussten, aber erst jetzt bemerkt wurden. Mitarbeiter hätten sie schon mit Weihnachtsplätzchen gefüttert.
"Mein Gott", entgegnete ich, "die müssen doch total ausgehungert sein, das Wochenende lag ja auch noch dazwischen und hier im Treppenhaus ist absolut nichts Essbares zu finden, geschweige denn Wasser zum Trinken". Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt breit und sah hinein. Es war nur ein kleiner Treppenflur und auf dem Boden lag ein großer Plastiksack. Es war keine Ratte zu sehen.
Wir gingen hinein und schlossen die Tür hinter uns. Ich hörte ein Geräusch. Es kam aus dem Sack."Sicher haben sie sich dort aus lauter Angst versteckt", meinte ich zu Peter gewandt. Ich hob den Sack vorsichtig an und ein ekliger Geruch drang an meine Nase."Oh Gott, das riecht verwest!" erklärte ich den beiden erschrocken. Nochmals griff ich zum Plastiksack und sah hinein. Es bot sich mir ein schrecklicher Anblick! Im äußersten Winkel saß eine schwarze Ratte, neben ihr lag ein totes weißes Tier. Es wies Verletzungen am Körper auf. Entweder ist die Ratte gestorben und wurde dann von der anderen aus lauter Hunger angefressen, oder sie hat ihren Kumpel getötet und dann angenagt, was mir jedoch eher unwahrscheinlich schien. Genau weiß man ja nicht, wann die beiden Ratten ausgesetzt wurden, aber ganz bestimmt bereits vor den Feiertagen und das ist über eine Woche her. Die Tiere mussten diese lange Zeit ohne Nahrung und ohne einen Tropfen Wasser ausgehalten haben. Vielleicht ist es sogar noch länger her, dass sie hier sind, denn es kommt ja praktisch so gut wie nie jemand hier hinein.
Mit Tränen in den Augen öffnete ich die Transportbox. Die Ratte machte einen sehr ängstlichen Eindruck und ich beschloss, sie mitsamt dem Sack hochzuheben und so vorsichtig in die Transportbox gleiten zu lassen, was auch ganz einfach und schnell gelang. Ich schloss den Deckel der Box und sah mir die Ratte nun erst einmal näher an. Es war ein großer schwarzer Bock, der sich ganz flach auf den Boden drückte. Den Anblick der toten Ratte wollte ich nicht noch einmal ertragen müssen und so bat ich die Frau, jemanden zu beauftragen, das tote Tier wegzubringen.
Betroffen betrachtete sie die Ratte in der Box und deutete mit der Hand auf den Plastiksack. "Das ist aber schade" meinte sie mit gedämpfter Stimme, "aber das konnte ja keiner ahnen. Die Menschen sind wirklich schrecklich. Es wäre doch besser gewesen, die Ratten ins Tierheim zu bringen, als sie hier ohne Wasser und Futter ihrem Schicksal zu überlassen". Kopfnickend stimmte ich ihr zu. "Ja" entgegnete ich, "man erlebt oft schlimme Sachen. Erst werden die Tiere angeschafft und wenn man ihrer überdrüssig ist, einfach ausgesetzt. Dann ist man auch noch zu feige, sie im Tierheim abzugeben". Mit überschwenglichem Dank begleitete uns die ältere Dame zur Ausgangstür. Auch ich bedankte mich herzlich, dass wir informiert wurden und so wenigstens noch eine der beiden Ratten "retten" konnten.
Zu Hause angekommen, betrachtete ich den Bock genauer. Er schien keine äußeren Verletzungen zu haben und machte keinen kranken Eindruck. Ich bot ihm Wasser an und legte etwas Obst in die Transportbox. Vorsichtig nahm er ein Stück Gurke zwischen die kleinen Finger und begann zaghaft zu essen. Nach all der Aufregung ließ ich ihn nun erst einmal in Ruhe. Als ich später wieder nach ihm sah, hatte er sich in die weichen Küchentücher gekuschelt, mit der ich die Box ausgelegt hatte und schlief ganz friedlich. Es schien, als wäre er froh, dass die lange Odyssee nun endlich ein gutes Ende genommen hatte.
Mein Dank gilt an dieser Stelle besonders Kerstin, die den Rattenmann aufgenommen hat und ihm für den Rest seines Lebens noch ein gutes Zuhause schenkte.
Erika Weiß-Geißler
Weihnachten 1996