Rattengeschichten - Sam, nicht nur zur Weihnachtszeit




Sam hatte ausgesprochen schlechte Laune. Das lag nicht etwa daran, dass er heute, an seinem freien Tag,ins Labor musste. Die Arbeit dort gefiel ihm im Großen und Ganzen,auch wenn ihm in letzter Zeit immer öfter Zweifel am Sinn und an der Berechtigung seiner Tätigkeit kamen. Als ob ihm eine innere Stimme etwas sagen wollte.
Sein Ärger heute war jedoch anderer Natur. Viele der Experimente, mit denen Sam beschäftigt war, konnten noch nicht zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen werden, erst recht nicht zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, die schnelle und eindeutige Ergebnisse verlangten. Als Sam im Labor ankam, stellte er fest, dass die meisten seiner Kollegen schon anwesend waren. Allerdings waren sie zu seiner Verwunderung nicht damit beschäftigt, Versuchsreihen vorzubereiten oder die Versuchsobjekte für die heute anliegenden Tests zu präparieren.

"Hallo Sam" wurde er begrüßt und er gab Jack die Hand, die dieser ihm reichte. "Was ist los, Jack" wunderte sich Sam, "warum seid ihr noch nicht an der Arbeit?" "Hör zu, Sam, viele von uns kamen zu dem Entschluss, dass wir mit unseren Versuchen aufhören sollten und.."


"Aufhören?" fiel ihm Sam ins Wort. "Ich will euch daran erinnern, dass viele der Experimente immer noch fehlschlagen, viele Zusammenhänge sind uns noch gar nicht bekannt und außerdem: wir haben endlich die neuen Versuchsobjekte bekommen, die wir schon lange angefordert hatten. Du weißt so gut wie ich: Der Unmut uns und unserer Forschung gegenüber wird größer, aber noch glauben uns die meisten und unseren Beteuerungen, wie wichtig und unverzichtbar unsere Arbeit ist".
Sam hatte sich richtiggehend in Rage geredet und Jack, um einiges kleiner gewachsen als sein Gegenüber, musste, fast noch mehr als sonst, zu ihm hoch blicken. "Sam, hör zu!" Jacks Stimme klang beschwörend. "Sam, ich will dich nicht daran erinnern, dass ich dein Vorgesetzter bin, das ist jetzt auch nicht wichtig, wichtig ist, dass wir alle hier, vom Pfleger bis zum Wachmann, dies alles", Jack deutete mit den Armen um sich, "nicht mehr mitmachen wollen. Wir haben viele der Experimente unserer Vorgänger übernommen, aber auch viel Neues versucht. Wir haben ohne Narkose Gliedmaßen amputiert, Organe freigelegt, Knochen gebrochen. Wir haben ihre Körper, ihre Haut mit Säure verätzt. Wir haben ihre Lungen und ihre Mägen mit Giften vollgepumpt. Wir haben sie in luftleere Räume eingesperrt, nur um die Zeit zu messen, bis sie qualvoll erstickten. Wir haben sie ertränkt und vergast, verbrannt und erfrieren lassen. Und weißt du, was das Schlimme daran ist? Nein? Ich will es dir sagen: Wir wussten überhaupt nicht, warum wir das taten. Dafür aber waren wir sehr erfinderisch, all dem ganz wichtige Namen zu geben, für all das Unrecht eine Begründung zu finden, um es rechtfertigen zu können".

Jack schwieg jetzt und Sam fragte nur: "Warum dieser Sinneswandel? Warum?" Sam deutete mit einer Hand auf die Käfige, die an allen Wänden des Labors entlang aufgestellt waren. "Habt Ihr plötzlich Mitleid mit diesen Kreaturen?" "Mitleid?" Jack schüttelte bedächtig den Kopf. "Nein, Mitleid ist nicht das richtige Wort für das, was wir empfinden.  Sam, als E R uns vor 3 Jahren wissen ließ, dass wir in den nächsten 5O Jahren die Herren der Welt sein werden, weißt Du noch, was E R noch sagte?"
Als Sam zögernd nickte, sah Jack sehr zufrieden aus. "Du weißt es noch. E R übertrug uns die Verantwortung für alles, was wir in Zukunft tun würden, E R gab uns Güte und Liebe, aber auch Hass und Rache. Ist Rache ein Motiv für das, was wir hier und anderswo tun? Es sollte nicht so sein, aber es ist so gekommen. Wollen wir wirklich die gleichen Fehler machen wie vor uns die Menschen? Nein Sam, Mitleid ist das falsche Wort. Wir wollen aufhören,nicht aus Mitleid, sondern aus Verantwortung und Toleranz gegenüber dem Mitgeschöpf. Dann können wir Ihm eines Tages mit gutem Gewissen gegenüberstehen."
Sam, die Ratte und Jack, die Maus sahen sich lange an, dann begannen sie gemeinsam, alle Käfige zu öffnen und beide schämten sie sich ihrer Tränen nicht. Sie weinten um die gequälten Kreaturen, und sie weinten aus Scham sich selbst gegenüber.Und sie hofften, E R würde ihnen ihre Sünden verzeihen, weil sie ihre Schuld eingestanden hatten und fest entschlossen waren, aus ihren Fehlern lernen zu wollen. Etwas, was die Menschen seit einer Ewigkeit nicht zustande brachten.

Jahre waren vergangen. Sam, die Ratte, war alt geworden. Alt und auch müde. In all der Zeit seit den Ereignissen im Labor war unendlich viel geschehen. Sam dachte in letzter Zeit oft an Jack. Er, der Sams bester Freund war, lebte schon lange nicht mehr. Er, der den Stein ins Rollen gebracht hatte, durfte die Früchte nicht mehr ernten, die er mit Seiner Hilfe gesät hatte.
"Hör mir zu, Sam" hatte Jack gesagt, als er zum letzten Mal mit Sam sprach. "Es wird deine Bestimmung sein, unser Werk alleine fortzuführen. Du wirst viel Kraft dafür brauchen, mehr als Du vielleicht aufbringen kannst. Manchmal wirst du denken, du kannst nicht weitermachen. Berge von Schwierigkeiten und Widerständen werden sich vor dir auftürmen. Und manches Mal, wenn du es auch jetzt noch nicht glauben wirst: manches Mal wirst du aufgeben wollen."
Jack schwieg. Das Sprechen hatte ihn angestrengt und Sam nutzte die Gelegenheit. "Jack! Ich weiß, was du mir sagen willst. Du glaubst, dass ich an unserer Aufgabe genauso scheitern werde wie damals die Menschen. Es gab wohl einige wenige, die mit uns in Frieden leben wollten, die uns nicht betrachteten als billige Lieferanten von Fleisch, die uns nicht als Versuchsobjekte missbrauchten. Es gab Menschen, die uns Tiere als Freunde haben wollten. Jack, es waren nur so wenige, sie mussten scheitern! Wir aber sind so viele. So viele Tiere mit der richtigen Einstellung zum Menschen. Du wirst sehen, wir werden es schaffen!"
Jack hatte Sam aufmerksam zugehört. Er lächelte, bevor er antwortete."Du bist noch jung, Sam. Aber glaube mir: erst die Zeit, eine lange Zeit wird alle Wunden heilen, die uns der Mensch zugefügt hat".

Sam öffnete die Augen. Jack hatte Recht behalten. Er hatte gewusst, dass es nicht so einfach sein würde. Versuche an Menschen gab es schon lange nicht mehr, alle Zoos wurden gleich nach Beginn der Neuzeit abgeschafft. Menschenjagden mussten anfangs verboten werden, bis sich auch hier mit der Zeit die Vernunft und der freiwillige Verzicht auf dieses untierische Verhalten durchsetzte. Aber die Freundschaft zwischen Tier und Mensch, verbunden mit gegenseitigem Respekt und Toleranz, die konnte man, und auch dies musste Sam einsehen, nicht mit Gesetzen und Bestimmungen erzwingen.
Er wusste auch, woran das lag. Es gab einfach keine Möglichkeit einer sprachlichen Kommunikation mit den Menschen. Schon in den ersten Tagen der Neuzeit wurden die Ratten, die intelligentesten aller Tiere, damit beauftragt, einen Weg zu finden, sich sprachlich mit den Menschen verständigen zu können. Lange Jahre beschäftigten sich die Ratten mit der Vergangenheit der Menschen und je intensiver diese Studien betrieben wurden, umso mehr wurde eines den Ratten klar: die Menschen verloren im Laufe ihrer Geschichte immer mehr den Glauben an Wunder. Die Ratten fanden viele Aufzeichnungen, in denen zwar wohl von der Existenz von Wundern die Rede war, sie erkannten aber auch, dass die Menschen nicht daran glaubten. Immer wollte der Mensch mit Wissenschaft und Logik alles um sich herum erklären, Wunder hatten keinen Platz mehr in seiner materiellen und maschinellen Welt. Alles war glatt, kalt und leblos.

Sam und seine Artgenossen glaubten an Wunder. War es nicht ein Wunder, dass die Ratten Jahrhunderte von Verfolgungen überlebt hatten? Und war es nicht auch ein Wunder, dass die Ratten Jahrzehnte mit Tierversuchen überlebt hatten? Für Sam war es das größte aller Wunder, dass E R den Ratten die Fähigkeit des Verzeihens gegeben hatte.
Sam schrak aus seinen Gedanken auf, als es an der Tür klopfte. Eigentlich erwartete er um diese Zeit niemanden. Seine Gäste würden erst später kommen, um mit ihm, wie in jedem Jahr, Heilig Abend zu verbringen. Auf seine Aufforderung betrat einer der Wissenschaftler, die in einem Institut ganz in der Nähe arbeiteten, Sams Zimmer. Sam spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, die Ratte machte einen verstörten und unsicheren Eindruck.
"Du solltest besser mit nach draußen kommen, Sam" bat der Vergangenheitsforscher. "Etwas Sonderbares geschieht, und wenn es jemand verdient hat, das mitzuerleben, dann du".

Sam erhob sich. Eine Vorahnung überkam ihn und trotz der Wärme im Zimmer fröstelte ihn. Er stellte dem Wissenschaftler keine Fragen, er glaubte zu wissen, was an einem Tag wie heute geschehen sein könnte. Die beiden Ratten verließen miteinander das Haus und gingen ins Freie. In dem großen Garten vor Sams Haus hielten sich, wie fast immer, einige Menschen auf. Sie schienen immer noch eine Erinnerung zu haben an die Zeit, als es der Mensch noch war, der Weihnachten feierte und wurden von dem beleuchteten Christbaum in der Mitte des Gartens magisch angezogen.
Sam ging näher zu den Menschen und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er hörte sie miteinander reden und Sam musste lächeln, als er an seine Vorahnung dachte - Sam konnte die Menschen verstehen! Er verstand den Sinn ihrer Worte und in aller Klarheit wusste er, dass er Zeuge eines Wunders war.
"Sam!" Der Wissenschaftler, der Sam gefolgt war, flüsterte fast, als fürchtete er, die Magie des Augenblicks mit seiner Stimme zu verbannen. "Du weißt von den alten Sagen der Menschen, in denen geschrieben ist, an Heilig Abend kann der Mensch mit den Tieren reden? " Sam nickte, ohne sich dabei umzudrehen. "Ich weiß davon. Jack hat es mir einmal erzählt. Und er erzählte mir auch, warum dies immer nur eine Sage blieb. Der Mensch glaubte nie wirklich daran, so wie er nicht an andere Wunder glaubte. Wir Ratten aber, wir haben diese Fähigkeit nie verloren. An Wunder glauben zu können, ist ein großes Geschenk, das wir nie mehr weggeben dürfen!"

Und in seinem Herzen hörte er Jacks Stimme:
"So ist es, Sam. Und niemand soll dies je vergessen!"

Peter Geißler