Rattengeschichten - Mausi |
Eigentlich kann ich mich gar nicht mehr so genau daran erinnern, wieso mir ausgerechnet eine Ratte als Haustier in den Sinn kam. Wusste ich damals doch noch nichts über diese Tiere und konnte nicht ahnen, dass dieser Gedanke schon bald Realität werden und mich Ratten eines Tages mit ihrem reizenden Wesen faszinieren, ja verzaubern würden.
Schon seit vielen Jahren leben in unserem Haus Schlangen in speziell eingerichteten Terrarien. Eines Tages hatte Peter von einem Freund zwei neue Tiere bekommen und einer der beiden Wildfänge verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme. Alle Versuche, das Reptil zum Fressen zu bewegen schlugen fehl, so dass diese Schlange bereits über ein Jahr zwangsernährt werden musste. Futtermäuse bezog Peter zu der Zeit von einer Züchterin, die in einem Nachbarort große Mengen Futtertiere wie Mäuse und Ratten verkaufte. Als er wieder einmal Futtermäuse abholte, erzählte er von seinem Problem und ehe er sich versah, hatte ihm die Züchterin ein lebendes, offensichtlich neugeborenes Rattenbaby in die Tasche gesteckt. Es hatte noch keine Haare und die Augen waren noch geschlossen. Als er zu Hause ankam, war ich zunächst entsetzt, schließlich bekamen unsere Schlangen niemals lebende Futtertiere angeboten. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als die Schlange partout nicht fressen wollte. Ich holte die winzige Ratte aus dem Terrarium und hielt sie in beiden Händen. Sie fühlte sich kalt an. Nach einigen Minuten spürte ich, wie die Wärme in ihren kleinen Körper zurückkehrte und fühlte plötzlich eine enge Verbundenheit mit dem kleinen Wesen. Was sollte nun mit diesem winzigen Kerlchen geschehen? Spontan entschloss ich mich, es zu behalten und bettete das nackte kleine Ding in eine mit weichem Küchenpapier ausgepolsterte Schachtel.
Da unser Hund vor nicht allzu langer Zeit ein winziges Mauswieselbaby auf dem Feld gefunden und ich den kleinen Kerl erfolgreich mit Katzenmilch ernährt hatte, war noch ein Vorrat an Milchpulver im Haus. Ich rührte eine geringe Menge an und versuchte, dem Rattenkind mit einer Pipette die angewärmte Milch einzuflößen. Zuerst stellte es sich sehr ungeschickt an und das meiste lief daneben, doch mit jedem Mal klappte es besser.
Aus der Literatur über Hundebabys hatte ich noch in Erinnerung, dass bei Neugeborenen die Mutter nach dem Säugen mit ihrer Zunge das Bäuchlein massiert und auf diese Weise den Welpen dabei hilft, Blase und Darm zu entleeren. Was also in diesem Fall die Rattenmutter erledigt, versuchte ich mit einem weichen Wattestäbchen nachzuahmen. Immer wenn eine Mahlzeit beendet war, wurde das Bäuchlein zart massiert und die Verdauung klappte recht gut.
Ich hatte schon viele junge Vögel aufgezogen und vermutete, dass neugeborene Nager auch mindestens jede Stunde gefüttert werden müssen. Es war Freitag Abend, als der kleine Wurm zu uns kam. Ich hatte entsprechend viel Zeit und war bemüht, ihm anfangs alle halbe Stunde ein bis zwei Tropfen Milch einzugeben. Doch der Wochenanfang rückte näher. Peter und ich mussten beide zur Arbeit, aber wer sollte sich um die kleine Ratte kümmern, sie regelmäßig füttern? Mehrere Stunden ohne Nahrung würde sie sicher nicht überleben. So entschloss ich mich kurzerhand, sie mit ins Büro zu nehmen.
Zwar hatte ich zu der Zeit ein Zimmer für mich alleine, doch musste ich immer damit rechnen, dass jeden Augenblick jemand den Raum betreten konnte. Fieberhaft überlegte ich, was zu tun sei, denn der kleine Ratz brauchte ja schließlich regelmäßig seine Mahlzeiten. Ich nahm einen großen braunen Briefumschlag und steckt die Schachtel samt Rattenkind vorsichtig hinein. Ein Glas mit fertig angerührter Katzenmilch hatte ich von zu Hause mitgebracht. Dann verschwand ich damit auf der Toilette. Jede volle Stunde wiederholte sich dieser Vorgang. Die wenigen Tropfen Milch waren schnell erwärmt und los ging's. Etwa 3 Tage hielt ich diese Anspannung durch, dann lagen meine Nerven blank. Zu groß war die Angst, entdeckt zu werden. Zwar ließich die Pause ausfallen und begann jeden Morgen einige Minuten früher mit der Arbeit, dennoch: Es war nicht auszudenken, wenn mein Chef bemerkt hätte, dass ich im Büro eine Ratte füttere!
Und so entschloss ich mich schweren Herzens, das Rättlein zurückzubringen. Am Abend fuhrt ich zur Züchterin und fragte, ob sie das Baby einer säugende Rattenmutter "unterschieben" könne. Sie zeigte mir eine braun-weiße Rättin, deren Babys jedoch noch kleiner waren als "meine" Ratte. Ohne Zögern akzeptierte sie das ihr angelegte neue Rattenkind. Die Frau konnte es gar nicht fassen, dass das nackte Ding, das sie vor einigen Tagen meinem Mann zugesteckt hatte, noch am Leben war und bereits Flaum bekommen hatte. Bereits kurz nachdem ich ins Auto gestiegen war, um mich auf den Weg nach Hause zu machen, packten mich schreckliche Gewissensbisse. Ich musste das Rattenkind unbedingt zurückholen, wollte den kleinen weichen Körper wieder in meinen Händen halten. War es doch ein unbeschreibliches Erlebnis zu spüren, wie die winzige Zunge die Milch von meinen Fingern schleckte, zu beobachten, wie der kleine Mund sich nach jeder Mahlzeit zum wohligen Gähnen öffnete und das Rattenkind dann zufrieden in den weichen Tüchern einschlummerte.
Ich beeilte mich nach Hause zu kommen und rief umgehend an, um der Züchterin meinen Entschluss mitzuteilen. Sie wollte mich auch gleich verständigen, sobald "Mausi", wie ich meine Ratte inzwischen getauft hatte, selbständig begann Nahrung aufzunehmen. Da ihre Zuchtkäfige alle gekennzeichnet waren und mein Baby in diesem Wurf älter war als seine "Stiefgeschwister", sollte es kein Problem sein, die "richtige" Ratte wiederzufinden. Schließlich wollte ja nicht irgendeine Ratte, sondern unbedingt meine Mausi zurückhaben!
Ungeduldig wartete ich in der nächsten Zeit auf einen Anruf, konnte es dann nach einigen Tagen nicht mehr aushalten und fragte bei der Züchterin nach, ob es denn nicht endlich soweit sei. Sie meinte, sie hätte mich am nächsten Tag anrufen wollen, doch so lange wollte ich auf keinen Fall mehr warten. Noch am gleichen Tag fuhr ich los und holte "Mausi" ab. Ich hatte für sie einen Käfig vorbereitet, doch am wohlsten fühlte sie sich immer ganz nah bei mir. Abends vor dem Fernseher kuschelte sie sich in meine Hände und schlief wohlig ein. So konnte sie fast reglos viele Stunden verbringen. Schon bald bekam sie Gesellschaft, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich ein "Rudeltier" allein wohlfühlen würde. Auch sehr viel Liebe eines Menschen kann einen Artgenossen nicht ersetzen. Und bald lehrte mich Mausi, dass Ratten ihr Leben nicht in einem engen Käfig verbringen wollen, dass sie sich am wohlsten fühlen, wenn sie mit anderen Ratten spielen, schlafen und kuscheln können und sich dabei trotzdem eng an ihren Menschen anschließen.
Als meine Mausi eines Tages unerwartet und plötzlich vom Tod überrascht wurde, fiel mir der Abschied unendlich schwer. Doch ihre Zuneigung hat mir die Tür geöffnet in eine Welt voller erlebnisreicher Erfahrungen und Erkenntnisse über diese zauberhaften Tiere mit ihrem faszinierenden Wesen. Immer wieder neue Ratten bereicherten nach ihr viele Jahre und noch heute mit ihren liebenswerten Charakteren mein Leben.
Ich werde immer an Dich denken, kleine Maus!
Erika Weiß-Geißler,
Im April 2002