Rattengeschichten - Mary |
Mein Neffe war in der Zooabteilung eines Fachmarktes beschäftigt. Eines Tages stand er vor meiner Tür und meinte, dass mit einer Lieferung Ratten aus der Tschechischen Republik diese eine - und dabei fuchtelte er mit einer Transportbox vor meiner Nase herum - ganz andersfarbige Ratte dabei gewesen sei.
Vor meinen Augen drückte sich ein verängstigtes Rättlein in die äußerste Ecke des Behälters. Wie ich sehen konnte, war es eine sogenannte "Husky-Ratte", eine ebensolche, wie sie von Futterrattenzüchtern in Tschechien häufig auf Reptilienbörsen angeboten werden.
Ich hatte diese Ratten vor Jahren das erste Mal in Prag entdeckt und mich damals spontan entschlossen, drei davon vor dem Ende in einem Schlangenmagen "zu retten". Auf der Verkaufstheke befanden sich damals 4 kleine Ratten. Die vierte erwarb eine Dame vor mir, die, wie ich aus einem Gespräch mit ihr erfuhr, auch Ratten als Haustiere hält.
Beim näheren Betrachten der von meinem Neffen mitgebrachten Ratte bemerkte ich am Körper merkwürdige "Ausbuchtungen". Das ist ein Weibchen und sie ist bestimmt trächtig, meinte ich. Ich ließ mich trotzdem dazu überreden, das zierliche Weibchen zu behalten.
Da ich mir ziemlich sicher war, dass die Ratte bald Babys bekommen würde, besorgte ich gleich am nächsten Tag ein 80er Aquarium, welches als Kinderstube dienen sollte. Ich stattete das Becken mit einem großen "Hocker" aus, unter welchen ich weiches Papier und geschredderte Zeitung platzierte, in der Hoffnung, die Ratte würde dies als Nistmaterial annehmen - und tatsächlich, drei Tage später lagen - ich zählte 8 - nackte, rosafarbige Babys im Nest.
"Mary", wie ich die Mama nannte, hatte mir den Gefallen getan und ihr Nest im Becken auf der mir zugewandten Seite des Zimmers eingerichtet. Es befand sich genau neben der Glasscheibe und so konnte ich alles, was sie tat, genau beobachten und filmen. Es war einfach faszinierend! Sie ließ sich nicht einmal durch eine Lampe stören, die ich zwecks besserer Beleuchtung zum Filmen angebracht hatte.
Am zweiten Tag nach der Geburt saß Mary unter dem Hocker auf der anderen Seite des Beckens. In jeder Minute, die sie nicht bei, bzw. auf ihren Kinderchen verbrachte, beobachtete ich sie misstrauisch, aus Angst, sie könne die Babys nicht mehr versorgen. Neugierig sah ich nach, was sie tat. Ich bemerkte, dass sie etwas in den Händen hielt und verzehrte. Zuerst konnte ich nicht erkennen, was es war, doch dann fuhr mir der Schreck in die Glieder! Sie saß da und fraß eines ihrer Babys! Schnell beruhigte ich mich aber wieder, wusste ich doch, dass Rattenmütter ihr Nest sauber halten und totgeborene Babys oder auch solche, die ein oder zwei Tage nach der Geburt sterben, einfach aufessen. Ich versuchte, sie nach oben zu locken, was allerdings misslang.
Innerhalb weniger Sekunden war nichts mehr übrig von dem kleinen, nackten Ding. Sah ich in der ersten Zeit mindestens jede Stunde nach, ob Mary ihre Babys säugte, so rannte ich nun alle paar Minuten ins Rattenzimmer, aus Angst, sie könne noch mehr Kleine auffressen. Meine Sorge war jedoch unbegründet. Mary erwies sich in den nächsten Tagen als äusserst fürsorgliche Mutter, die ihre Kinderchen rührend versorgte, was ich, dank ihrer Hilfe, mit der Kamera festhalten konnte. Ich war erleichtert. Das aufgefressene Baby war offensichtlich eine Totgeburt. Die Kleinen wuchsen prächtig heran und bald schon krabbelten die ersten aus dem Nest.
Als sie etwa 3 Wochen alt waren, beobachtete ich mit wachsender Sorge, dass Marys Bauch merkwürdig aufgedunsen erschien. Wenn sie sich auf die Hinterbeine stellte, sah es aus, als hätte sie einen ,,Wasserbauch". Ich wollte nicht länger warten und fuhr mit ihr zu meiner Tierärztin. Diese tastete alles ab und meinte, sie könne nichts Außergewöhnliches spüren und hatte wie auch ich den Eindruck, dass Mary scheinbar keine Schmerzen hatte. Ob sie denn trächtig sein könne, fragte mich die Ärztin. Ich verneinte dies mit energischem Kopfschütteln.
Sie hatte, seit ich sie bekommen hatte, keinerlei Kontakt mit anderen Ratten gehabt, schon gar nicht mit einem Bock (meine männlichen Ratten sind alle kastriert, da ich alle Tiere in einer Gruppe halte und angesichts der Flut von Ratten auf keinen Fall zur Vermehrung beitragen möchte). Tja, meinte die Ärztin stirnrunzelnd, ich werde ein Röntgenbild machen, vielleicht wissen wir dann mehr. Nach einigen Minuten kam sie mit der Aufnahme in den Händen wieder. Das ganze Team betrachtete das Bild, jedoch war absolut nichts zu erkennen. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Die Ärztin meinte, sie könne jetzt nur noch vermuten, dass es eventuell ein Gebärmuttertumor sein könnte. Ich solle doch die Ratte beobachten und bei den ersten Anzeichen einer Veränderung wieder in die Praxis kommen. Sie riet mir noch, Mary von den Babys zu trennen, die ja inzwischen knapp 4 Wochen alt waren und schon selbständig Nahrung aufnahmen, obwohl Mary sie noch säugte.
Das sah dann immer äußerst merkwürdig aus, wenn sie aufrecht mit dem Rücken an die Beckenwand gelehnt, in einer Ecke stand und an ihrem Bauch sieben kleine "Monster" hingen. Mit ihren 4 Wochen waren die Kleinen schon riesig geworden und prächtig gediehen. Da nicht sicher war, was Mary fehlte, sollte sie sich erst einmal von den Strapazen der Säuglingspflege erholen.
Weil sie aber nicht so allein sein sollte, nahm ich sie am Abend mit ins Wohnzimmer und gab ihr Ebony zur Gesellschaft. Er ist eine besonders liebe und verträgliche Ratte, die jeden Neuling sofort akzeptiert. Da das Sofa von meiner restlichen Ratzelbande besetzt wird, setzte ich die beiden auf den Zweisitzer. Mary gefiel mir gar nicht, sie wirkte sehr nervös und laufend zupfte sie an der Decke herum, die unter ihr lag. Ich brachte sie dann später am Abend wieder in ihr Becken zurück. So verfuhr ich auch den folgenden zwei Tagen. Als ich Mary am dritten Tag wieder ins Wohnzimmer tragen wollte, griff ich in den Schlafplatz hinein, um sie herauszuholen. Ich erschrak, denn ich berührte plötzlich etwas Warmes, Weiches.
Entsetzt starrte ich auf meine Hand, in der ich nackte, neugeborene Rattenkinder hielt. Ich stürzte in die Küche zu Peter und stammelte etwas wie "schau doch mal, Babys von Mary, wie kann das sein, was soll ich denn jetzt nur tun"? Ich überlegte sogar, die Kleinen einzuschläfern. Lieber einen schnellen und schmerzlosen Tod, als eine ungewisse Zukunft, dachte ich. Außerdem machte ich mir Gedanken um Marys Gesundheit, die ja gerade mal die ersten Babys abgesetzt hatte. Behalten konnte ich sie unmöglich alle, tummelten sich doch inzwischen 15 Ratten bei mir. Aber Mary hatte die erste Geburt und alles drum herum gut weggesteckt und besaß eine gute Konstitution. Alle möglichen und unmöglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie kann so etwas nur möglich sein? Mary hatte doch keinen Kontakt mit einem Bock! Und, wo sollte ich nur all die vielen Rattenkinder unterbringen, hatte ich doch mit Mühe den ersten Wurf vermitteln können. Alle Babys kamen in liebevolle Hände. Vielen Dank an dieser Stelle, dass ihr alle den Kleinen ein neues Zuhause gegeben habt: Corina und Walter, Rosi und Dieter, sowie Kerstin. Ein kleiner Bock namens Monty, Kosename "Monsterle", blieb bei mir.
Peter meinte: "Nun warte doch erst mal ab und beruhige dich". Meine Stimme überschlug sich fast und ich war der Hysterie nahe." Worauf soll ich denn warten?", meinte ich und rannte mit den Babys wieder davon. Mary hatte sich aus dem, was sie so in "ihrer Wohnung" gefunden hatte, ein Nest gebaut. Da ich die Schlafplätze immer gut mit weichem Küchenpapier auspolstere, war genügend vorhanden. Allerdings musste ich sie umquartieren, weil dieses Becken, in dem sie tagsüber untergebracht war und nun dort auch ihre Babys geboren hatte, in der Nacht als "Schlafstätte" für Ratten aus meiner Gruppe gedacht war.
So richtete ich also wieder das ursprünglich als "Wurfbecken" geplante Aquarium her, baute ihr ein weiches Nest, legte die Neugeborenen hinein, wobei ich sie gleich zählen konnte - zu meinem Entsetzen waren es 11 ! - und setzte die Mama dazu. Die war natürlich durch den Stress der laufenden "Umzieherei" total irritiert und inspizierte erst einmal das neu eingerichtete Becken. Ihre Babys beachtete sie überhaupt nicht. Immer noch "unter Schock stehend" dachte ich insgeheim, wenn sie jetzt nicht mehr zu den Kleinen geht, löst sich das Problem von alleine...und erschrak gleichzeitig über meine Gedanken. Als ich jedoch nach geraumer Zeit wieder nach ihr sah, lag sie auf ihren Kinderchen , die genüsslich die warme Milch schmatzten. Nun gut, dachte ich und hatte mich endlich wieder unter Kontrolle, irgendwo werden wir auch für euch ein gutes Plätzchen finden.
Langsam kam ich nun dazu, meine Gedanken zu ordnen. Immer wieder stellte sich mir die gleiche Frage,:woher hat sie nur die Babys? Aus Literatur und eigener Erfahrung wusste ich, dass Reptilien z. B. nach nur einer Kopulation auch nach zwei, drei Jahren noch Junge gebären, bzw. befruchtete Eier legen können. Aber bei Ratten? Zwar habe ich auch gelesen, dass Rattenmütter unter ungünstigen Bedingungen bereits ausgebildete Embryos zurückbilden können - aber umgekehrt? Doch, wenn ich mich recht entsinne, hatte ich davon gehört, dass auch bei Ratten eine einmalige Befruchtung für mehr als einen Wurf genügt. Ja, nur so kann es gewesen sein. Auch wenn es noch so unglaublich scheint, welche Erklärung könnte es sonst geben?
Oh, Mother Mary...... Aber die Geschichte geht noch weiter.
Der Zufall wollte es, dass wir am Tag nach der Geburt des zweiten Wurfes lieben Besuch hatten. Corina und Walter, die neuen "Eltern" zweier erstgeborener Babys, konnten so das Geschehen mitverfolgen. Zuerst war ich natürlich damit beschäftigt, diese unglaubliche Geschichte genauestens zu berichten. Dann gingen wir die Babys anschauen. Mary säugte zwar die Kleinen, wirkte aber immer noch sehr nervös, was nicht weiter verwunderlich war angesichts der Belastung von zwei Würfen in so kurzer Zeit. Aus unerklärlichen Gründen wühlte sie mit Vehemenz im Nistmaterial herum. Dabei wurden die armen Babys herumgeschubst wie auf einem Trampolin. Das tat sie so lange, bis sie sich direkt unter dem Nest befand. Durch diese Aktion wurde eines der Neugeborenen nach ganz unten befördert. Da sich unter dem eigentlichen Nistmaterial noch mehrere Schichten Zeitungspapier befanden, war die Lage, in der sich das Kleine momentan befand, sehr fatal. Mary arbeitete sich wieder nach oben und legte sich zum Säugen auf ihre Babys.
Da ich den Vorgang die ganze Zeit beobachtet hatte, überlegte ich fieberhaft, wie ich das Kleine schnellst möglich dort hervorholen könnte. Zwangsläufig musste ich aber warten, bis Mary mit dem Säugen fertig war und wieder nach oben kam. Vorher würde ich nicht an das Kleine herankommen. Alle paar Minuten rannte ich nach hinten, um nachzuschauen, ob sie endlich fertig war, jedesmal vergeblich. Als ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, saß Mary oben auf dem Hocker. Um ihr unnötige Aufregung zu ersparen, wenn ich in das Nest griff, nahm ich sie kurz heraus und "puhlte" das Baby unter den Zeitungen hervor.
Es war bereits bläulich verfärbt, eiskalt, bewegte sich nicht mehr und war völlig plattgedrückt. Eigentlich hätte ich froh sein können - ein Baby weniger, um dessen guten Platz ich mir Sorgen machen musste - aber der Anblick des völlig hilflosen, winzigen Etwas in meiner Hand rührte mich sehr. Ich wärmte das gerade mal einen Tag alte Rattenkind mit meinem Atem, massierte mit einem Finger ganz sanft das kleine Körperchen und blies vorsichtig Luft in die winzige Nase. Nach einer schier endlos langen Zeit hob und senkte sich plötzlich das Bäuchlein ,auf das wir alle wie gebannt starrten. Das Baby begann wieder zu atmen! Ich wagte es nicht, mit der "Wiederbelebung" aufzuhören und massierte immer wieder den winzigen Körper. Langsam kehrte Leben zurück in dieses kleine, nackte Wesen.
Das Neugeborene war jedoch sehr schwach und seine Bewegungen liefen ab wie in Zeitlupe. Ich hatte Bedenken, ob es sich gegen 10 starke Geschwister durchsetzen und eine Zitze mit der lebenbringenden Milch erwischen würde. Ich wollte natürlich unbedingt wissen, ob es "mein" Baby schafft, am Leben zu bleiben. Ich markierte seinen Kopf mit einem langen roten Strich eines Faserschreibers und legte es wieder ins Nest zurück.
In den folgenden Stunden lief ich immer wieder ins Rattenzimmer, um nachzusehen, ob das Kleine auch zum Trinken kam - und dann endlich der erlösende Anblick: "mein" Baby "hing" an einer Zitze seiner Mama und saugte. Dieser Anblick berührte mich sehr und ich war überglücklich. Ich wusste zwar nicht, ob das Kleine nun schon "überm Berg" war, aber so viel stand für mich fest: wenn es das Baby schaffte zu überleben, dann musste ich es behalten! Und so kam es dann auch. Jetzt, nach vier Wochen ist es ein properes kleines Böckchen, das mit seinen Geschwistern durch das Becken tobt.
Dieses Ereignis hat dazu beigetragen, das Band zwischen mir und meinen Ratten noch fester zu knüpfen. Das beeindruckende Erlebnis wird für mich immer unvergesslich bleiben!
Erika Weiß-Geißler
Im November 1996