Rattengeschichten - "Fundratten" |
Soeben drückt mir mein Chef Unterlagen in die Hand mit den Worten:" Die Besprechung zu diesem Thema müssen wir um eine halbe Stunde vorverlegen, bitte informiere den Verteilerkreis darüber". Das geht ja schon wieder gut los, denke ich mir, wo ich doch grade mal eine viertel Stunde im Büro bin. Ich nicke mit dem Kopf und will zum Telefonhörer greifen, um die Teilnehmer über die Änderung des Besprechungstermines zu informieren. In diesem Moment jedoch klingelt das Telefon. "Guten Morgen, hier ist Lehmann aus dem Magazin. Wir haben hier eine lebende Ratte in einer Kabeltrommel", schallt es mir in gepflegtem Sächsisch ins Ohr
Mit gezielten Fragen überspiele ich meine momentane Überraschung. "Wie, was, welche Kabeltrommel, wie lange ist sie schon da drin und wo steht diese Kabeltrommel?". Bereitwillig bekomme ich vom Teilnehmer am anderen Ende der Leitung Auskunft.
"Also hier kann sie nicht bleiben und freilassen können wir sie auch nicht, dann ist sie am nächsten Morgen wieder hier. Können sie nicht kommen und sie abholen? Ich habe gehört, sie kennen sich aus mit Ratten und haben selbst welche zu Hause?!"
Fieberhaft überlege ich, wie ich es wohl anstellen könnte, die Ratte so schnell wie möglich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Unsere Firma hat einige Gebäude im Stadtgebiet verteilt. Vor meinem Umzug Ende letzten Jahres in das neue Bürogebäude wäre es für mich ein Leichtes gewesen, eben schnell mal ins Magazin zu laufen, aber jetzt muss ich mit dem Auto fahren, um dorthin zu gelangen. Ich kann doch schließlich nicht meinen Chef fragen, ob ich kurz mal wegfahren kann, um eine Ratte zu "befreien"!
So einfach ohne Erlaubnis wegzugehen, traue ich mich aber auch nicht. Vor Aufregung kam ich ins Schwitzen. Ich rief Peter an und fragte, ob er nicht schnell mal dort hin fahren könnte, um bei der Befreiungsaktion zu helfen. Aber auch hier hatte ich kein Glück, denn momentan sei sehr viel zu tun und er meinte, sein Chef würde wohl etwas dagegen haben.
Ich überlegte hin und her. Dann fiel mir ein Kollege ein, der mir schon einige Male auch privat behilflich war. Doch auch hier bekam ich eine Absage. Es war wohl auch etwas viel verlangt, jemanden zu bitten, während der Arbeitszeit eine Ratte zu retten...
Langsam war ich dem Verzweifeln nahe. Ich wollte und musste dieser Ratte helfen! Koste es was es wolle! Mit unserem "lila Bomber" (zum besseren Verständnis für die, die uns nicht kennen: unser Polo ist pinkfarben) konnte ich unmöglich wegfahren. Das würde jeder gleich merken, also: letzter Ausweg ein Firmenfahrzeug. Um in die verschiedenen Gebäude am Ort zu gelangen, stehen Firmenfahrzeuge für Stadtfahrten zur Verfügung. Also holte mir von meinem Chef die Erlaubnis und ließ mir kurzerhand ein solches reservieren. Ich rannte die Treppen hinunter, um die Autoschlüssel abzuholen. Unsere firmeneigenen Wagen sind alle weiß und haben eine Aufschrift. Ich hatte jedoch Glück und bekam einen Leihwagen, weil grad kein anderer PKW zur Verfügung stand. Noch besser, dachte ich, da kennt mich dann niemand. Ich stieg in den grünen Golf und fuhr los in Richtung Magazingebäude.
Vor dem Hinterausgang parkte ich und ging hinein.
Schon kamen mir zwei Mitarbeiter entgegen, um mich "einzuweisen". Einer der beiden ging mit nach draußen und zeigte mir die bewusste Kabeltrommel. Sie hatten sie auf die Öffnung eine Holzplatte gelegt und darüber noch einen großen Metalldeckel. "Du liebe Güte", meinte ich,"die Ratte kann diese Holzabdeckung doch niemals hochheben, wozu denn noch die Eisenplatte?". "Na ja, man kann ja nie wissen", entgegnete mir mein Gegenüber und wuchtete die schwere Platte hoch. Dann nahm er den Holzdeckel ab und ich konnte einen Blick hineinwerfen.
Zusammengekauert und dick aufgeplustert saß eine Wanderratte in dem von ihr ausgesuchten Versteck, das ihr leider zum Verhängnis geworden war. Sie hatte offensichtlich panische Angst, denn sie machte keine Bewegung, sie sah nicht einmal nach oben, nachdem der Deckel abgenommen war. Wer weiß, wie lange sie schon da drin sitzt, dachte ich.
Auf dem Boden sah ich einige angeknabberte Styroporschnipsel liegen. Wahrscheinlich war sie schon dem Hungertod nahe. Nur, wie bringen wir sie da heraus? Das Loch oben war recht klein, man konnte eben mal die Hand durchstecken und das andere Loch befand sich am Boden. Würde man die Kabeltrommel einfach hochheben, könnte die Ratte davonlaufen. Ich wollte auf alle Fälle verhindern, dass sie möglicherweise wieder zurück ins Gebäude läuft, denn nicht alle haben so viel Verständnis und informieren mich, wenn sie irgendwo im Haus eine Ratte finden. Vom Versand wurde mir berichtet, dass dort Mitarbeiter eine Ratte in einer langen Papprolle gefangen hatten und sie dann erschlagen haben! Immer wieder frage ich mich, wie jemand so etwas nur tun kann. Sie hätten das Tier ebenso wieder freilassen können!
Der Kollege wuchtete die beiden schweren Deckel wieder auf die Kabeltrommel und ließ sie mit einem Krachen fallen. Der Knall riss mich aus meinen Gedanken. So ein Idiot, dachte ich. Die arme Ratte muss schreckliche Ängste ausstehen, der könnte doch wirklich etwas vorsichtiger sein. Aber da erwarte ich sicher zu viel. Eigentlich bin ich ja schon froh, dass man mich überhaupt verständigt hat. Gleichzeitig fasse ich den Entschluss, dem Mitarbeiter, der mich angerufen hat ,am nächsten Tag eine Flasche Sekt vorbeizubringen. Damit stehen die Chancen vielleicht besser, dass er mich auch beim nächsten Mal wieder kontaktiert, wenn er eine Ratte findet.
Auf der Suche nach einem geeigneten Karton kommt noch ein jüngerer Mitarbeiter dazu. Ich frage ihn, ob er mir hilft, die Ratte in den Karton zu bekommen. Er stimmt gleich zu und meint, er wäre ja auch froh, wenn sie wegkommt. Zaghaft versuche ich etwas Aufklärungsarbeit zu leisten und erzähle ihm, wie intelligent Ratten sind. Aufmerksam und interessiert hört er zu und nickt einige Male staunend. Inzwischen hatten wir einen geeigneten Karton gefunden und schoben eine Platte unter die dem Boden zugewandte Öffnung der Kabeltrommel. So konnte der Kollege die Platte samt Trommel auf den Karton stellen. Von oben griff er hinein, ausgerüstet mit dicken Arbeitshandschuhen, und versuchte, die Ratte durch die kleine runde Öffnung nach unten in den Karton zu schubsen. Beim dritten Versuch gelang es ihm, ohne dass sich das arme Tier auch nur in irgendeiner Form versucht hätte zu wehren. Wir schlossen den Deckel des Kartons und stellten ihn mitsamt kostbarer Fracht ins Auto.
Ich hatte mir schon vorher in Gedanken bereits einen guten Platz ausgedacht, wo ich die Ratte freilassen wollte. Da ich die Befürchtung hatte, sie könnte sehr hungrig sein, wollte ich etwas Futter mitnehmen. Aber woher nehmen. Schließlich war ich nicht darauf eingerichtet, irgendwo unterwegs Ratten zu füttern. Also es half nichts, ich musste schnell nach Hause fahren und etwas geeignetes holen. Ich schnappte mir schnell ein Päckchen Futter und startete wieder stadtauswärts. Der Ort, den ich gewählt hatte, befand sich direkt neben einem kleinen Bächlein und einem künstlich angelegten Sumpfbiotop, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleines Wäldchen. Ich ging an eine dichter bewachsene Stelle und öffnete den Karton. Gespannt wartete ich darauf, was nun passieren würde.
Nach einigem Zögern lief die Ratte heraus und zielstrebig in Richtung Wasser davon. Krank sah sie nicht aus, ihr Fell lag nun ganz dicht an und als ich ihr einige Schritte vorsichtig folgte, hüpfte sie wie ein Frosch mit großen Sprüngen davon. Ich beobachtete sie noch einige Minuten, bis sie im dichten Gras verschwand. Ich freute mich riesig, dass die Ratte nun ihre Freiheit wieder hatte. Ich hoffe nur, dass sie sich dort auch zurecht findet.
Inzwischen war etwa eine halbe Stunde vergangen und ich eilte zum Wagen, um so schnell wie möglich wieder ins Büro zu kommen. Keiner schien etwas von meinem Abenteuer bemerkt zu haben. Heute und morgen verzichte ich auf meine Pause, dann hab ich die "Rettungsaktion" wieder eingearbeitet. Dabei war es nicht das erste Mal, dass ich einer Ratte auf diese Weise zur Freiheit verhelfen konnte
Als mein Büro noch im alten Gebäude untergebracht war, rief mich jener Kollege schon einmal an. In einem großen leeren Fass hatten sie eine Ratte gefangen. Auch damals bot sich mir ein Bild des Jammers: Auf dem Boden der Tonne, die mit einer schweren Betonplatte abgedeckt war, saß zusammengekauert ein kleiner Ratz und schaute erwartungsvoll nach oben. Damals hievte ich das Fass auf einen alten Handwagen und brachte die Ratte ebenfalls zurück in die Natur. Ich finde, man sollte so ein "wildes" Tier, das die Freiheit gewöhnt ist, nicht zu Hause einsperren und vesuchen, es zu "zähmen". Bei ausgewachsenen "Wildratten" gelingt dies ohnehin nur in den seltensten Fällen. So einem Ratz sollte man seine Freiheit wiedergeben und allein die Tatsache, dass es doch noch Menschen gibt, die nicht ganz gleichgültig dem "unwürdigen" Leben eines "Schädlings" gegenübertreten, hat mich glücklich gemacht. Dieser Mann hätte die arme Ratte auch ihrem Schicksal überlassen können. Sicher wäre sie jämmerlich verhungert oder ein anderer hätte sie totgeschlagen. Doch so hat die Geschichte für die Ratte doch noch ein gutes Ende genommen.
Letztendlich ist es allein der Mensch, der die Tiere in "Schädlinge" und "Nützlinge" einteilt und ihnen so ihren natürlichen Lebensraum immer mehr beschneidet. Aber jedes Geschöpf auf unserem Planeten erfüllt seinen ihm zugedachten Sinn und Zweck und wir haben nicht das Recht ,nach unser Vorstellung über deren Daseinsberechtigung zu urteilen oder zu bestimmen.
Erika Weiß-Geißler
Im August 1995