Rattengeschichten - Easy

Es ist, als sei es erst gestern gewesen und doch ist es schon so lange her, dass Easy jeden meiner Schritte mit ihren klugen, schwarzen Äuglein verfolgt hat. Ich vermisse sie so sehr und jeder Gedanke an sie weckt schmerzliche Erinnerungen an vergangene Zeiten...

Wann immer ich betrübt war, musste ich nur ihren Namen rufen, sofort lugte ihr kleines Köpfchen aus einem Haus. Wenn ich dann ihren zarten Körper mit beiden Händen umschloss, traf mich ihr Blick wie ein Sonnenstrahl bis tief ins Herz hinein und alle dunklen Gedanken waren vergessen.

Sie umklammerte mit beiden Händchen meine Nase und so, als wolle sie mich trösten, leckte sie zärtlich mit ihrer kleinen warmen Zunge darüber. Wenn ich mich dann mit ihr auf's Sofa setzte, legte sie sich hinter meinen Kopf auf die Lehne und schlief wohlig ein. Sie lag da wie ein kleiner Engel und ich konnte meine Blicke nicht von ihr wenden. Ab und zu zuckten ihre zu Fäustchen geballten kleinen Hände im Schlaf. Zärtlich streichelte ich über ihren Kopf, manchmal musste sie dann herzhaft gähnen und räkelte sich wohlig.

Easy wollte immer im Mittelpunkt stehen, immer bei uns sein, alle Besucher empfing sie mit heller Freude und verstand es so, jedem ein Lächeln zu entlocken. Sie war die einzige Ratte, die immer einen Weg vom Sofa nach unten fand. Dann lief sie im Wohnzimmer umher und inspizierte jeden Winkel, niemals kam sie auf den Gedanken, irgendetwas zu zerstören. Sie war nur neugierig und wollte einfach alles erkunden. Ich musste sie auch niemals suchen, brauchte nur ihren Namen rufen und schon kam sie aus irgendeiner Ecke des Zimmers angelaufen.

Zu unser beider Vergnügen kaufte ich ihr eine kleine Leine mit Brustgeschirr, das sie sich gerne anlegen ließ. Dann lief sie wie ein kleiner Hund mit mir begeistert durch alle Räume. Seiltanz war ihre Spezialität. Extra für sie hatte ich im Badezimmer ein dickes Tau gespannt. Beim ersten Mal kippte sie noch nach unten und baumelte wie eine reife Pflaume am Ast herunter. Aber schon nach zwei Anläufen wusste sie, worauf es ankam und flitzte wie ein Seiltänzer schnell und elegant von einer Seite zur anderen.

Viele Monate durfte ich mit ihr verbringen und hatte große Freude an ihrem immer freundlichen Wesen, doch auch meine Easy blieb von Krankheit nicht verschont. Zwei Operationen konnten ihren unbändigen Lebenswillen nicht trüben, aber ein halbes Jahr danach versagten ihr die Hinterbeine mehr und mehr den Dienst. Schleichend schritt die Krankheit voran und so kam es, dass sie sich zuletzt nur noch mit großer Mühe fortbewegen konnte. Die Atemprobleme, die sie schon seit längerer Zeit plagten, taten ein übriges.

Es tat mir unendlich weh, mit ansehen zu müssen, wie mein kleiner Wirbelwind zusehends verfiel. Sie, die mit so viel Elan durch das Zimmer flitzte, an meinen Beinen hochkletterte gleich einem Bergsteiger, der den Mount Everest erklomm. Sie, die immer so viel Freude am Leben hatte.

Das alles sollte nun plötzlich zu Ende sein?

Als ihre Beine dann so gar nicht mehr wollten, brachte ich sie mit Kelly auf der Krankenstation unter. So waren beide in Gesellschaft und konnten ohne Belästigung der anderen in Ruhe den Tag verbringen. Doch mit jedem Tag fiel Easy das Atmen schwerer. Kein Medikament konnte ihr mehr Linderung verschaffen. Mit jeder Faser meines Herzens hing ich an ihrem bischen Leben und wollte sie einfach nicht gehen lassen, doch eben meine Liebe zu ihr sagte mir, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen.

So wurde dieser Montag Abend keiner wie jeder andere. Easy geht es gar nicht gut, sie hat in den letzten zwei Tagen kaum gegessen und auch stark abgenommen. Sie liegt da auf ihrer Wärmeflasche und meine Augen treffen ihren traurigen Blick.

"Hilf mir doch".scheint sie mir sagen zu wollen und das zu verstehen, dazu bedarf es keiner Worte...

Ich kann es nicht mehr ertragen, meine Easy soll nicht länger leiden und so entschließe ich mich mit Tränen in den Augen, sie von ihren Qualen zu erlösen.

Ich bette sie noch einmal auf eine frische Wärmflasche und streichle zärtlich über ihren kleinen mageren Körper. Die Tränen laufen über mein Gesicht. Mit letzter Kraft versucht sie mit ihrer kleinen Zunge meine Tränen zu trocknen. Ach Easy, es fällt mir so schwer Abschied zu nehmen, aber bald wirst Du keine Schmerzen mehr haben, flink wie ein Wiesel umherspringen, ein Meer von Blumen wird dich umgeben und Du wirst wieder frei atmen können!

Es ist ein kurzer Abschied, noch bevor ich meine Gedanken ordnen kann, hat meine Easy ihre Reise angetreten, eine Reise, von der sie nie zurückkehren wird...

Doch in meinen Träumen bis Du hier, bist Du nah bei mir, so als wärst Du nie weggegangen. Ich kann Deine Nähe spüren, dein weiches Fell mit meinen Händen berühren, fühle Dein Herz schlagen ...oh Easy, ich werde Dich nie vergessen.

Leb wohl mein kleiner Sonnenschein.....

Hab Dank für all die Freude,

die ich mit Dir haben durfte.

Leb wohl kleine Easy!

Erika Weiß-Geißler,

Im September 1998