Rattengeschichten - Beverly

Seit vielen Monaten schon lebt meine kleine Beverley mit einem schiefen Köpfchen. Langsam und fast unmerklich schlich sich die Krankheit ihn ihren kleinen Körper. Es ist eine tückische Krankheit und so bemerkt man sie oft erst recht spät, weil die ersten Anzeichen, eine leichte Neigung des Kopfes, manchmal schwer erkennbar sind. Erst wenn die Krankheit weiter voran schreitet, treten verstärkt Symptome auf. Mein kleines Möhrchen, das ich damals krank aus Prag zu mir holte, befand sich bereits in einem kritischen Stadium und ich wagte nicht zu hoffen, dass er jemals wieder "gesund" werden würde.

Da ich seine Symptome mit Medikamenten jedoch sehr gut eindämmen konnte, behandelte ich Beverley ebenfalls sofort mit dem gleichen Antibiotikum. Bei ihr, wie auch damals bei Möhrchen, blieb einzig eine Kopfschiefhaltung zurück. Munter wie eh und je "sauste" sie umher und es sah trotz des traurigen Hintergrundes ihrer Krankheit lustig aus, wenn sie einen mit ihrem schiefen Köpfchen anschaute. Eines Tages spürte ich an ihrem Hals einen kirschkerngroßen Knoten.

Wir fuhren am nächsten Tag zum Tierarzt, der Beverley gründlich abtastete. Ich hatte kein gutes Gefühl. Meine Befürchtungen sollten sich bestätigen. Mit ernstem Gesicht diagnostizierte mein Doc einen inoperablen Schilddrüsentumor. Viel Hoffnung, dass der Tumor nicht größer werden würde, hatte ich nicht, auch das Medikament, welches das Wachstum hemmen sollte, zeigte keine Wirkung. Der Tumor wurde immer größer. Tapfer schleppte Beverley an ihrem Hals einen inzwischen pflaumengroß gewordenen Tumor mit sich herum und blieb trotzdem immer munter und fröhlich! Diesen unglaublichen Lebenswillen trotz schwerer Krankheit konnte ich schon bei vielen meiner Ratten bewundern!

Vor vielen Jahren erlebte ich, wie meine meine Nicki gegen ihre chronische Atemwegserkrankung ankämpfte. Sie gab auch dann nicht auf, als ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten. Von ihrem Lager aus beobachtete sie stets das Geschehen und hob das Köpfchen, sobald ich den Raum betrat und nach ihr rief. Tagsüber hatte ich sie weich gebettet in einem großen Aquarium untergebracht, den Abend verbrachte sie mit ihren vierbeinigen Freunden. Als sie eines Tages unter akuter Atemnot litt, sträubte sie sich mit aller Kraft gegen den Tod und gewann, wenn auch nur für wenige Wochen. Diese kurze Zeit gönnte ich ihr von ganzem Herzen, bis der Abschied dann unausweichlich war. Seit vielen Jahren ist sie nun schon im Rattenhimmel, dennoch werde ich ihren tapferen, aber ungleichen Kampf mit dem Tod nie vergessen.

Doch zurück zu Beverley. Mit Argusaugen beobachtete ich jede Veränderung des Tumors. Von meinem Tierarzt ließ ich mich ausführlich informieren, was im "Notfall" zu tun sei, denn hin und wieder kann ein Geschwür in dieser Größe durchaus aufbrechen. Ich hatte mir alles bereit gelegt, saubere Tücher, blutstillende Watte, medizinisches Puder usw. Vorsichtig tastete ich den Tumor ab. Er fühlte sich hart und fest an, die Haut war prall gespannt und in der Mitte dunkel gefärbt und ich wollte noch immer nicht glauben, dass ich einfach nichts tun kann.

Zwei Tage später, als Beverley aus ihrem Haus kam, starrte ich entsetzt auf ihren "Tumor". Mitten hindurch zog sich ein langer Riß. Es sah aus wie eine aufgeplatzte Kastanie . Entgegen den Ankündigungen des Tierarztes trat keinerlei wässrige Flüssigkeit oder Blut aus. Durch den kleinen offenen Spalt konnte ich nur eine weiße, feste Masse sehen. Vorsichtig versuchte ich etwas davon herauszudrücken, hatte jedoch Bedenken, da ich bisher noch keinen aufgeplatzten Tumor gesehen hatte. Dennoch gelang es mir, etwas von dieser "käsigen" Masse herauszupulen.

Doch dann verließ mich der Mut, ich wollte ihr ja durch meine Unwissenheit nicht schaden oder unnötige Schmerzen bereiten. Es war inzwischen auch schon spät geworden und ich musste ins Büro. Dort hatte ich jedoch keine ruhige Minute und stellte noch am Vormittag Beverley der Urlaubsvertretung meines Tierarztes vor. Eine Ärztin, die ich auch schon seit vielen Jahren kenne, die jedoch leider nur mit Injektionsnarkose operiert, weshalb ich mich letztendlich auch für meinen Doc entschieden habe, der ein hervorragender Arzt ist und schnell und routiniert mit Inhalationsnarkose arbeitet.

Nachdem ich ihr kurz die Vorgeschichte erzählt hatte, betrachtetn wir beide Beverleys aufgeplatzten Tumor. "Ach Gott", waren ihre ersten Worte, "so 'was hab ich aber auch noch nicht gesehen". Und als wir dann mit mäßigem Erfolg einen kleinen Teil dieser käsigen Masse herausgedrückt hatten, verschwand sie kurz und kam mit einer Art langen "Löffel" zurück. Damit schälte sie eine größere Menge heraus. Nach einiger Zeit meldete sie dann Bedenken an. Sie wäre nicht sicher, wie es unter dem "Tumor" aussah. Ich meinte: "egal, jetzt wird alles auf eine Karte gesetzt" und drückte noch einmal beherzt zu. Ein dicker Klumpen plumpste heraus. Was blieb, war ein riesengroßes Loch im Hals von Beverley, durch das man tief bis in das Halsinnere hineinsehen konnte. Ein schrecklicher Anblick. Der Tumor hatte sich nun also als ein riesiger, verhärteter Abszess entpuppt. Die Ärztin entfernte einen Teil der bereits abgestorbenen Haut. Dann wurde die Wunde gespült.

Meine kleine Bev ließ geduldig die Tortur über sich ergehen. Sie war ganz brav und zappelte nur hin und wieder. Damit die Ärztin die Wunde entsprechend behandeln konnte, musste sie mehrmals auf dem Rücken liegen, das war sicher sehr unangenehm für sie. Endlich war es überstanden und ihr kleiner Körper war vom Spülen ganz nass geworden. Beverley war heilfroh, als sie endlich wieder in ihrer Transportbox saß.

Die weitere Behandlung zu Hause konnte ich alleine vornehmen. Beverley sollte mindestens 10 Tage lang ein Antibiotikum bekommen und die Wunde musste täglich gespült werden. Kranke Ratten trenne ich nur ungern von ihren Artgenossen, und wenn da nicht meine kleine kranke "Mama" gewesen wäre , hätte Beverley wegen der Infektionsgefahr der großen Wunde einige wenige Tage alleine ausharren müssen. So aber verbrachten die beiden zusammen den Tag auf der Krankenstation. Von "Mama" ging keine Gefahr aus. Sie schlief den ganzen Tag. Wir vermuteten, dass ein Schlaganfall ihr die Gesundheit geraubt hatte.

Innerhalb weniger Tage hatte sich Beverleys große Wunde durch eine anschließende Behandlung mit Salbe verschlossen. An eine derart schnelle Heilung hatte ich nie gewagt zu glauben. Es ging ihr wieder gut - aber damit sollte es noch immer nicht genug sein!

Ein paar wenige Wochen später fühlte ich zwischen ihren Hinterbeinen am Bauch einen kleinen Knoten. Ein Mammatumor, dachte ich, eine Operation dürfte kein Problem sein. Einigen meiner Ratten konnten solche Geschwüre immer leicht entfernt werden. Aber als mein Tierarzt Beverleys Knoten abtastete, lautete seine niederschmetternde Diagnose "inoperabel". Ich wollte es nicht glauben, aber dieses Mal würde sie nicht noch einmal so viel Glück haben, ich musste es wohl akzeptieren.

Beverleys Bauch wurde immer dicker, der Tumor war inzwischen pflaumengroß geworden und dennoch schleppte sie sich tapfer über das Sofa im Rattenzimmer, wo ich sie inzwischen untergebracht hatte, dort konnte sie sich auf dem weichen Untergrund beim Laufen nicht wundscheuern. Alle Häuser sind mit Küchentüchern ausgepolstert und Gesellschaft leisteten ihr JoJo, Blondie und Moritz. Sie hat trotz oder gerade wegen ihrer Erkrankung einen riesigen Appetit und kann es immer kaum erwarten, bis sie endlich ihren Babybrei mit Banane bekommt. Besorgt beobachte ich sie täglich, aber sie ist munter und lebhaft, soweit es ihre Behinderung zuläßt und zeigt keine Anzeichen von Schmerzen. Wenn ich mich am Abend zu ihr und der restlichen Ratzelbande auf das Sofa setze, legt sie sich neben mich und bettet ihr Köpfchen in meine Hand. So bleibt sie dann lange Zeit selig liegen. Ab und zu verspeist sie dabei genüsslich ein Stück Banane oder Käse. Die kleine freche Krümel, ein zartes aber selbstbewusstes Albinomädchen, will sich dann immer zwischen Bev und mich drängen und ich muss sie ständig "zur Ordnung" rufen, damit sie meine Patientin nicht zu sehr belästigt.

Beverley blutet, vermutlich eine Gebärmutterentzündung. Sie bekommt Medikamente, welche die Blutung zum Stillstand bringen. In letzter Zeit sind ihre Tücher vom vielen Pinkeln ständig nass, ich tausche sie ständig aus, damit sie trocken liegt, vermutlich drückt der Tumor auf die Blase. Voller Sorgen stelle ich sie sie erneut meinem Tierarzt vor. Ich erzähle ihm von Beverleys unbändigem Lebenswillen und dass mir nicht zuletzt deshalb allein die Vorstellung, womöglich bald Abschied von ihr nehmen zu müssen, besonders schwer fällt. Er tastet den großen Tumor lange ab und meint dann, er würde eine Operation wagen. Ich war überrascht und sprachlos, hielt er doch vor einigen Wochen einen Eingriff für nicht möglich. Aber ein Befund kann sich wie auch der Allgemeinzustand eines Tieres ändern. In der Medizin muss man Entscheidungen immer wieder neu abwägen.

Er erklärte er mir, dass es keine einfache Operation werden würde, er jedoch recht zuversichtlich sei. Er schien meine Bedenken zu spüren und meinte, ich solle es mir doch überlegen und ihn dann wegen eines OP-Termines anrufen.

Ja - und nun habe ich mich entschlossen, Beverley operieren zu lassen. Es war keine leichte Entscheidung. Ich habe schreckliche Angst vor der Operation und ich weiß, ich werde es mir nie verzeihen, wenn bei dem Eingriff etwas schief geht. Aber wir haben keine Alternative. Der Tumor ist schon sehr groß geworden und sehr lange kann sie damit ohnehin nicht mehr problemlos leben. Ich bete, dass alles gut geht!

Es ist alles bereit: weich ausgepolsterte Transportbox, Wärmeflasche, Schlafsäckchen. Es ist 18.00 Uhr und wir machen uns auf den Weg. Der OP-Termin ist auf 18.30 anberaumt. Während der Fahrt ist Beverley recht nervös und ich versuche sie zu beruhigen. In der Praxis angekommen, müssen wir noch eine halbe Stunde warten. Beverley hat sich in der Zwischenzeit beruhigt, liegt ganz locker in der Box und putzt sich. Ich bin sehr aufgeregt. Dann ist es soweit, es ist 19.00 Uhr, der Narkoseapparat steht bereit und der Doc bittet uns herein. Ich wünsche noch einmal viel Glück für die Operation, dann lege ich Beverley in die Narkosemaske.

Im Wartezimmer schaue ich immer wieder voller Ungeduld auf die Uhr. Nach etwa 20 Minuten öffnet sich die Tür. Strahlend hält mir mein Doc Beverley mit beiden Händen entgegen. Sie blinzelt mich an und ich streichle ihr über die kleine Nase. "Wie geht es ihr" frage ich besorgt. "Alles gut verlaufen", meint mein Tierarzt, "der Tumor hat sich gut entfernen lassen, ich mußte ein Blutgefäß abbinden und ich habe versucht, die Wunde so klein wie möglich zu halten. Ein Schmerzmittel hat sie bekommen und ich erwarte keine Komplikationen". Der Arzt legt Beverley in die Box und erleichtert, aber noch nicht ganz ohne Sorge, machen wir uns auf den Heimweg. Aus der Wunde tritt wässriges blutiges Sekret aus und die weißen Papiertücher verfärben sich rosarot.

Um 20.30 isst meine kleine Patientin eine kleine Schale Babybrei. Sie liegt zugedeckt mit einem weichen Tuch ganz ruhig in ihrem Krankenkäfig, der auf einer einer Wärmflasche steht. Ich sehe immer wieder nach ihr, alles unverändert. Am nächsten Morgen ist Beverleys Zustand nach wie vor gleich. Sie schläft viel, hat aber seit gestern nichts mehr gegessen. Ich finde einige frische Blutflecken, bette sie auf frische Tücher. Sie liegt ganz platt auf dem Bauch, die Hinterfüße nach hinten gestreckt. Ich gebe ihr mit eine Spritze Traumeel ins Mäulchen, etwas Babybrei mit Traubenzucker und ein Eisenpräparat wegen des Blutverlustes. Mir fällt auf, dass sie viel und gerne auf der Wärmflasche liegt. Tags darauf wirkt Beverley eine Spur munterer, bekommt wieder ihre Medikamente und isst wenig Brei.

Am nächsten Morgen bringe ich Bev im Wohnzimmer auf dem Sofa unter. Sie erholt sich langsam und wirkt schon munterer, isst Banane, Butterkeks und Brei. Beverley erholt sich zusehends und sie darf wieder ins Rattenzimmer unter, wo sie Gesellschaft hat.

Der Bauch von Beverley ist erneut dick geworden, Wundwasser hat sich in der großen Operationshöhle gesammelt. Ich trage täglich mehrmals Traumeel-Salbe auf, stelle Bev aber trotzdem zur Sicherheit noch einmal meinem Tierarzt vor, der beruhigt mich aber und meint, es würde einige Zeit dauern, bis sich das Wundwasser zurückgebildet hat. Mit ihren 2 Jahren und 9 Monaten hat Beverley tapfer all ihre Krankheiten gemeistert!

Mit meiner Geschichte möchte ich jedem Mut machen, nicht immer gleich die Hoffnung aufzugeben, wenn eine Ratte krank geworden ist. Nicht jeder Tumor bedeutet das Todesurteil.

Meinem Tierarzt möchte ich noch einmal herzlich danken, dass er die Behandlung eines Tieres nicht an dessen Größe und materiellem Wert misst, wie es leider immer noch viele handhaben und dem Rattenhalter nahe legen, sich doch für ein "paar Euro" einfach eine neue Ratte zu kaufen, anstelle eine teuere Operation zu bezahlen, die sich gar nicht "lohnt"... Den Wert eines Tieres, das Leben eines Familienmitgliedes, welches es für viele Menschen ist und unser Dasein um so vieles bereichert, kann niemand je mit Geld bezahlen.

Ich habe bislang noch keine Operation meiner Ratten bereut, auch nicht die von Beverley und wenn sie am Abend auf dem Sofa neben mir liegt und ihr kleines Köpfchen in meine Hand legt, dann weiß ich, dass die Entscheidung richtig war.

Doch auch wenn wir, wie so oft, vergeblich gegen Krankheiten kämpfen und den Tod nie besiegen werden, was immer auch kommen mag: "nicht die Anzahl der Tage, die ein Tier gelebt hat zählt, sondern die Spuren, die es in unserem Herzen hinterlassen hat...."

Erika Weiß-Geißler,

Im Juni 2003