Rattengeschichten - Möhrchen

Es ist nicht alles Gold was glänzt... Das besagt schon ein altes Sprichwort. Dass dies auch in Prag, der "Goldenen Stadt" nicht anders ist, das spüren dort auch, wie überall auf dieser Erde, die ärmsten der Armen, unsere Tiere.

Es ist ein sonniger, heißer Tag, als uns der Weg nach Prag führt. Wir steigen eine steile Treppe hinab in einen dunklen Keller, ein Einheimischer führt uns in einen winzigen Raum. Hier züchte ich das Futter für meine Reptilien, erklärt er uns in gebrochenem Deutsch. Mein Blick schweift über ein Regal mit einigen übereinandergestapelten Boxen. In den meisten Behältern befinden sich Mäuse.

Sicher ist es nicht weniger schlimm, wenn diese kleinen "Verwandten" unserer "Lieblinge" als Futter hier wie auf der ganzen Welt gezüchtet werden, dennoch atme ich erleichtert auf, weil sich nur in wenigen Boxen Ratten aufhalten. Durch ein kleines Fenster versucht verzweifelt ein Sonnenstrahl in das Dunkel vorzudringen. Er trifft genau auf einen Behälter mit einigen kleinen Ratten, der auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters steht. Ich zähle mindestens 15.

Sie können sich aussuchen , soviele sie möchten , erklärt der Tscheche freundlich. Ich weiß, dass ich nicht alle mitnehmen kann , daher fällt mir die Wahl besonders schwer. Mit dieser schrecklichen Realität wurde ich in den vielen Jahren meiner Liebe zu Ratten immer wieder neu konfrontiert und es gelingt mir immer weniger zu akzeptieren, dass alles, was das Leben diesen liebenswerten Geschöpfen beschert ist, als Futtertier oder nach grausamer Todesfolter im Versuch zu enden.

Immer wieder unentschlossen schweift mein Blick über den Behälter mit den kleinen Ratten, die unruhig durcheinanderlaufen. Peter wirft mir einen ungeduldigen Blick zu, was wohl so viel heißen soll wie "entscheide dich endlich". Tief seufzend wähle ich einige hellbeige, fast weiße Rattenmädchen aus.

Peter meinte dann, "der ist aber auch nett" und zeigte mit dem Finger auf einen kleinen hellbraunen Rattenbock. Natürlich hatte ich ihn längst entdeckt, mir aber vorgenommen, dieses Mal keinen Bock mitzunehmen, denn eine Kastration wäre unumgänglich gewesen. Allerdings hakte ich sofort ein und fragte zurück, ob ich ihn denn auch noch mitnehmen soll. Wie ich mir dann aber einbildete, schien Peter wohl dann doch nicht derart begeistert zu sein, dass es noch eine Ratte mehr werden würde, so dass ich mich trotz der eigentlich positiven Antwort entschied, nur mit den Rattenmädchen nach Hause zu fahren. Zu meiner eigenen Beruhigung redete ich mir immer wieder ein, dass ich ohnehin nie alle Ratten auf dieser Erde vor dem sicheren Tod retten könne....

Aber schon nach den ersten Kilometern auf dem Nachhauseweg wurde ich immer unruhiger und ärgerte mich insgeheim, dass ich mich von Peter oder vielmehr von mir selbst habe beeinflussen lassen und den kleinen Bock seinem Schicksal überlassen hatte. Durch meine Wortkargheit aufmerksam geworden, fragte Peter nach, welche Laus mir denn über die Leber gelaufen sei. So gab ein Wort gab das andere, ich warf Peter vor, er sei schuld daran, dass ich diesen kleinen Bock am Ende doch nicht mitgenommen hatte, er verteidigte sich damit, dass er mich ja noch auf ihn aufmerksam gemacht hätte. So folgten noch einige "Wortgefechte". Fieberhaft überlegte ich, wie ich denn doch noch zu "meiner Ratte" kommen könnte. Ich war überzeugt, dass Peter keinesfalls bereit war, noch einmal mehrere hundert Kilometer weit zu fahren.

Zu Hause angekommen, rief ich in meiner Verzweiflung bei einer Firma an, die sich auf den Transport von lebenden Tieren spezialisiert hat, konnte jedoch keine näheren Auskünfte bekommen, was auch nicht weiter verwunderlich war - das Kalenderblatt zeigte einen Sonntag an. Da ich mir auch nicht zutraute, allein in Prag herumzufahren, war eine gute Freundin meine letzte Hoffnung. Ich wusste, dass eines der Hobbys ihres Sohnes Autofahren war, egal wohin. Aber leider kam postwendend die Ernüchterung. Sein Auto stand nach einem Auffahrunfall noch in der Werkstatt. Es schien alles wie verhext!

Als Peter dann einlenkend meinte, wir könnten ja am nächsten Wochenende noch einmal nach Prag fahren und den Ratz holen, war ich happy! Sofort rannte ich zum Telefon, um den Tschechen zu informieren, dass er mein "Möhrchen" auf keinen Fall verfüttern dürfe und wir den Kleinen am Samstag abholen würden. Er war einverstanden. So hatte ich eine endlos lange Woche vor mir, aber auch sie verging.

Am Freitag abend klingelte unser Telefon. Am anderen Ende meldete sich der tschechische Züchter und meinte, er habe heute beobachtet, dass der kleine braune Bock "Koordinationsprobleme" hätte. Auf mein Nachfragen, wie sich das denn äußern würde, meinte er, er würde seinen Kopf schief halten und im Kreis laufen. Ich habe ihm dann erklärt, dass wir ihn trotzdem abholen werden.

Als ich am Samstag vormittag den kleinen Kerl in seinem Behälter unkoordiniert umherlaufen sah, kamen mir fast die Tränen. Ich nahm ihn heraus und hatte Schwierigkeiten, ihn festzuhalten. Er drehte sich in meinen Händen wie ein Krokodil, das Beute machte, um die eigene Achse - immer und immer wieder. So schlimm hatte ich es mir dennoch nicht vorgestellt. Aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich setzte ihn in die Transportbox und fragte mich in Gedanken immer wieder, ob er überhaupt fähig sein würde, in diesem Zustand Nahrung aufzunehmen, aber die Krankheit konnte ja erst jetzt ausgebrochen sein, denn vor einer Woche verhielt er sich noch völlig "normal".

Wieder daheim, verabreichte ich ihm sofort ein Antibiotikum und eine höhere Dosis Vitamin B, was er über mehrere Tage bekommen sollte. Er war überaus ängstlich, was durch seine Behinderung natürlich noch verschlimmert wurde, aber er beruhigte sich sehr schnell. Bereits nach wenigen Tagen ging es ihm sichtbar besser. Das Kreislaufen hatte vollkommen aufgehört, nur die leichte Kopfschiefhaltung, die wird er wohl behalten.

Inzwischen ist er kastriert und es geht ihm blendend. Er kann essen, trinken, sich putzen und wenn er so da sitzt, sieht man ihm gar nicht an, dass er so schlimm krank war. Inzwischen versucht er auch zu klettern, was ihm immer weniger Schwierigkeiten bereitet. Die Integration mit meinen beiden schwarzen Teufelchen verlief relativ problemlos, die beiden sind ja selbst noch "halbstark".

Möhrchen ist jetzt ein stattlicher kleiner Ratz geworden und es ist einfach rührend zu beobachten, wenn er sich bemüht, Diabolo und Luzifer zu putzen und zu benagen. Er ist durch seine Behinderung natürlich nicht so schnell wie die beiden und so entwischen sie ihm immer wieder. Er läss;t sich aber dadurch nicht beeindrucken. Beharrlich versucht er es immer wieder, und so vertragen sich die drei inzwischen blendend.

Ich bin so froh, dass ich mein Möhrchen doch noch zu mir geholt habe. Er ist ein reizender, kleiner Kerl, den man einfach liebhaben muss.

Erika Weiß-Geißler,

Im August 1999