Rattengeschichten - Maggie und Smartie

Mit gemischten Gefühlen betrete ich den Zooladen. Es ist ein schmuddliges Geschäft. Ich kenne es seit vielen Jahren und bis heute hat sich nichts verändert. Der Fußboden ist verschmutzt, die Käfige verdreckt. Auf dem Boden entdecke ich einem kleinen Hamsterkäfig mit einer schwarzen Ratte. Die Tür zur Nagerabteilung steht offen und es zieht entsetzlich.

"Sie hat gerade Babys bekommen" ertönt hinter mir eine sonore Stimme. Die Verkäuferin, eine resolute Person, drängt sich in den Käfigbereich."Haben sie noch mehr Ratten?" frage ich vorsichtig und insgeheim hoffe ich, dass meine Frage verneint wird. Doch da deutet sie schon mit dem Finger auf eine Box im Käfigregal. In einem kleinen Behälter sehe ich fünf Ratten, einen großen, schwarzen Bock und vier Weibchen. Unter dem Bauch eines schwarz/weißen Weibchens lugen winzige Babys hervor. Noch bevor ich zu Wort komme, schubst die Verkäuferin die Ratte mit einer Handbewegung von ihren Kinderchen. "Das wäre nicht nötig gewesen" meinte ich, "ich hätte sie schon noch gesehen". "Ach, das macht ihr nichts aus, die ist das gewöhnt", lacht die ältere Frau.

In einer notdürftig von der Rattenmutter geschaffenen Mulde liegen drei winzige Rattenbabys. Aus einer handvoll Heu blinzeln mir 6 schwarze Äuglein entgegen. Es sind zwei schwarze Rättchen mit einer weißen Maske im Gesicht und ein schwarz/weißes, mageres Baby. "Ich nehme sie", höre ich mich plötzlich sagen und erschrecke selbst vor meinen Worten. Schließlich wollte ich nur Futter für meine Vögel kaufen. "Wollen sie sie als Schlangenfutter oder als Haustiere?" fragt mich die Verkäuferin. "Nein, nein, natürlich als Haustiere!" erkläre ich mit betont lauter Stimme. "Dann müssen sie noch eine Woche warten, weil sie noch saugen" meint sie.

Ich nicke und muss daran denken, dass sie die Kleinen sofort ihrer Mutter weggenommen hätte, wenn jemand Futterratten hätte haben wollen.

Die Ladenklingel lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. "Gut", ich hole sie nächste Woche ab, aber ich bezahle sie gleich, damit sie auch bestimmt nicht verfüttert werden". "Das ist nicht nötig, ich hebe sie ihnen ganz sicher auf", sagt die Verkäuferin und schmunzelt.

Ich möchte die Babys nicht einen Tag länger als nötig in dem Laden zurücklassen, denn die Gefahr, dass jemand kommt, der schnell einen "mundgerechten" Leckerbissen für seine Reptilien braucht, ist einfach zu groß. Ich beschwöre die Verkäuferin noch einmal eindringlich, "meine" Rattenbabys auf keinen Fall als Futter zu verkaufen. Dann fahre ich aufgewühlt und unruhig nach Hause.

Es wird eine lange Woche und kein Tag vergeht, an den ich nicht voller Angst daran denken muss, ob die Verkäuferin ihr Wort hält. Dann endlich ist es soweit: "bewaffnet" mit einer Transportbox fahre ich in die Nachbarstadt, um "meine" Babys abzuholen. Mit klopfendem Herzen betrete ich den Laden. "Wo sind meine Ratten" rufe ich noch in der Tür stehend nach hinten. "Keine Angst, die sind schon noch da", beruhigt mich die Verkäuferin. Sie öffnet die Box. Die Kleinen liegen immer noch versteckt unter ihrer Mutter, die jedoch bereits wieder nackte Babys säugt. Es ist entsetzlich, kaum ist der erste Wurf abgestillt, muss sie schon wieder neue Babys versorgen. Kein Wunder, der Bock ist immer noch im Käfig! Ich frage vorsichtig nach, ob sie ihn nicht herausnimmt, damit die Rattenmutter sich etwas erholen kann. Die Verkäuferin sagt es mir zu, aber ich zweifle an ihren Worten. Zu viele Ratten gehen seit Jahren dort als Futtertiere über den Ladentisch....

Ich hole meine Kleinen aus dem Käfig und lege sie in die mit Streu gefüllte Transportbox. Zu Hause angekommen, setze ich den Rattenkindern gleich eine Schüssel mit Babybrei vor ihre kleinen Näschen, aber sie wissen nichts damit anzufangen. Sie patschen mit ihren kleinen Händen in den Napf und krabbeln durch den Brei, so dass ich ihre Bäuchlein zunächst mit einem Tuch säubern muss. Ich werde ihnen die Umstellung etwas erleichtern. Ich mische eine Mixtur aus Babybrei, Milch, Joghurt, Nutri Cal, Mineralstoffen und Vitaminen und biete ihnen die Flüssigkeit mit einer Pipette an. Gierig schlecken sie mit ihren winzigen Zungen die köstliche Nahrung. Ich bin froh, dass es so gut klappt. Am nächsten Tag schon nehmen sie selbständig den Brei auf.

Die beiden Schwarzen bekommen bereits nach kurzer Zeit ein kleines wohlgenährtes Bäuchlein, aber das winzige schwarz/weiße Mädchen macht mir Sorgen. Sie isst nur sehr wenig und nimmt kaum zu. Sie war zwar schon im Nest ein kleines mageres Ding, aber ich hoffte, sie schnell mit einer kräftigen Kost aufpäppeln zu können. Aber daran allein liegt es wohl nicht.

Ganz leise sind knatternde Geräusche zu hören. Ich habe große Angst um das winzige magere Wesen, denn eine Antibiotikumbehandlung würde ihren kleinen schwachen Körper noch mehr belasten. Ich warte noch einen Tag, aber es scheint schlimmer zu werden. So entschließe ich mich schweren Herzens, ihr dennoch ein Medikament zu verabreichen. Sie nimmt es tapfer aus einer Pipette auf. Zwar spielt sie mit ihren Geschwisterchen, aber ich merke ihr an, wie sehr sie das Herumtoben anstrengt.

Ich versuche, meine Gedanken an ihre Krankheit zu verdrängen und freue mich, wenn sie winzige Mengen Brei aufnimmt. Nun wird es auch langsam Zeit, den drei kleinen Wirbelwinden Namen zu geben. Fieberhaft überlege ich, was zu ihren Wesen passt, es ist schwer. Der kleine Bock ist ein smarter Bursche, ich werde ihn "Smartie" nennen! Ich überlege hin und her nach einem passenden Namen für sein gleichfarbiges Schwesterchen. Die Entscheidung wird mir schnell abgenommen. Aus dem Radio ertönt in dem Moment eines meiner alten Lieblingslieder von Rod Steward: "Maggie May".

Maggie! Ja, so soll sie heißen! Aber mein kleines Sorgenkind hat immer noch keinen Namen, es will mir nichts rechtes einfallen. Na gut, vielleicht findet sich morgen etwas Passendes.

Es ist früh am morgen und alle Ratten warten schon unruhig darauf, dass ich die Käfige öffne und sie endlich draußen herumtoben dürfen. Alle stehen parat, aufgereiht wie Perlen auf der Schnur, auch klein Maggie und Smartie warten schon, aber wo ist ihr krankes Schwesterchen? Ich merke. wie sich in meinem Hals ein dicker Kloß bildet. Ich rufe nach ihr "Mäuschen, komm, mein Mäuschen", aber sie kommt nicht! Vorsichtig greife ich mit der Hand in das Schlafhaus. In meinen Händen liegt ihr kleiner, lebloser Körper. Sie ist tot!

Tränen steigen mir in die Augen. So unendlich kurz war ihr Leben, erst wenige Tage war sie hier und schon musste sie uns wieder verlassen. Es tut mir unendlich leid, ich konnte ihr nicht helfen. Es ist immer wieder diese entsetzliche Hilflosigkeit, die mich oft schier verzweifeln lässt. Ich bette den kleinen Körper auf ein Tuch, meine Tränen fallen auf ihr weiches Fell. Leb wohl kleines Mäuschen, ich vergesse Dich nicht, auch wenn Du nicht lange hier bei uns bleiben durftest!

Wochen vergehen und aus Smartie ist ein properes Böcklein geworden, Maggie hingegen ist ein zartes kleines Rattenmädchen. Viele Monate habe ich Freude mit den beiden. Eines Tages bemerke ich, dass Maggie humpelt. Nichtsahnend nehme ich sie hoch, denke, sie wird sich wohl beim Klettern den Fuß verstaucht haben. Als ich dann jedoch ihr Bein näher betrachte, fährt mir der Schreck in die Glieder. Der Oberschenkel ist dick angeschwollen und hart wie Stein. Und genau in diesem Moment weiß ich, dass es für Maggie keine Hilfe mehr gibt!

Ich erinnere mich an Shaddow, an dessen Schulter Knochenkrebs wucherte. Dieser Tumor fühlte sich genau so an wie Maggies Bein. Über Nacht wuchs dieser Tumor heran, genau wie bei Shaddow..... Doch ich will nichts unversucht lassen und gleich am nächsten Tag stelle ich Maggie dem Tierarzt vor, der meine traurige Diagnose jedoch bestätigt. Er meint, die letzte Chance wäre eine Amputation des Füßchens, da aber der ganze Oberschenkel betroffen war, wäre eine Operation zwar möglich, aber er müsste bis in die Hüfte hinein alles entfernen und Maggie wäre nicht einmal mehr ein Stumpf geblieben, der ihr ein erträgliches Weiterleben ermöglicht hätte.

Das wäre ein qualvolles Leben, sagt mein Tierarzt. Ich nicke nur und meine letzte Hoffnung war dahingeschmolzen. Ich kann nur abwarten....

Maggie sollte so lange bei uns bleiben, wie sie keine Schmerzen hatte. Der Tierarzt sagte, es käme auch hin und wieder vor, dass so ein Tumor aufhören würde zu wachsen und es könne vielleicht noch einige Wochen, gar Monate dauern, aber als unsere Blicke sich trafen, wussten wir wohl beide, dass dies ein Wunschtraum bleiben sollte... Als der Tierarzt Maggie untersuchte, zeigte sie keine Anzeichen von Schmerz. Zu Hause angekommen jedoch, piepste sie bei jeder Bewegung und ich wollte nicht glauben, dass es schon so schnell vorbei sein sollte.....

Aber bei jeder Berührung und Annäherung anderer Ratten schrie sie und mied deutlich den Kontakt zu ihren Artgenossen. Auch als ich versuchte, sie abzutasten, schien sie Schmerzen zu haben. Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf, "ich kann sie doch nicht einfach so einschläfern, sie ist doch erst ein knappes Jahr alt und vor allem, außer dem Tumor ist sie doch kerngesund, sie weiß doch genau, was um sie herum geschieht. Es ist nicht so wie bisher bei allen anderen Ratten, die todkrank auf die andere Seite hinüberdämmerten..."

Ich entschloss mich, ihr eine Überdosis Tranquillizer zu geben, damit sie vor dem Einschläfern in einen Dämmerzustand gerät. Ich rief also meinen Tierarzt an und fragte nach der Höhe der Dosierung für einen Tiefschlaf. Ich bin schrecklich aufgeregt, doch der Gedanke, dass Maggie dann nichts von der Euthanasie mitbekommen würde, beruhigt mich ein wenig. So bereite ich meinem kleinen Rattenmädchen ihre Henkersmahlzeit. Ich komme mir vor wie ein Verräter und die Tränen laufen mir über das Gesicht, als sie ganz brav ihr Schälchen leerte. Ich nehme sie hoch und verabschiede mich, erzähle ihr, dass sie keine Schmerzen mehr hat und dass es dort, wo sie nun bald hingehen würde, wunderschön sei. Doch sie sah mich nur verständnislos mit ihren großen dunklen Augen an. Ihr Blick trifft mich wie ein Stich ins Herz, aber sie sollte nicht leiden.

So warte ich also auf die Wirkung des Medikamentes, aber es passierte nichts. Maggie wollte und wollte nicht müde werden. Im Gegenteil. Sobald ich mich dem Käfig näherte, um nach ihr zu sehen, kam sie mir entgegen, als wollte sie mich fragen "was ist los, warum kommst Du schon wieder?" Als ich das nächste Mal nach ihr sah, saß sie gemütlich vor dem Haus und knabberte an einem Zwieback!

Ich bin ratlos! Ich erhöhte die Dosis noch einmal, aber nichts passierte. Sie war und blieb hellwach. Mir wurde inzwischen klar, dass sie auf keinen Fall ohne vorherige Betäubung eingeschläfert werden darf. Es war schon spät geworden und ich wollte mir am nächsten Tag ein wirksameres Mittel vom Tierarzt geben lassen. Früh am Morgen führte mich mein erster Weg zu Maggie. Es schien ihr "blendend" zu gehen! Sie lief herum und humpelt nur wenig mit ihrem kranken Bein. Ich nehme sie heraus, taste sie ab, kein Schmerzlaut, nichts. Sie hatte Hunger und verschlang gierig ein Schüsselchen Brei. In diesem Moment wusste ich, dass ihre Zeit noch nicht gekommen war. Mir war klar, dass uns nur noch wenige Tage vergönnt waren, aber auch wenn es nur noch ein paar Stunden sein sollten: solange es ihr "gut" ging, sollte sie noch bei uns bleiben.

Der Tumor wuchs täglich und wurde immer größer. Tapfer humpelte sie umher, doch fiel ihr mit diesem enormen Gewicht jede Bewegung immer schwerer. So lag sie meist in ihrem weich ausgepolsterten Iglu und machte nur noch kurze Ausflüge auf das Sofa und auch ihr Appetit wurde immer weniger. Da wusste ich, dass der Abschied endgültig vor der Tür stand. Und so kam es auch. An diesem, ihrem letzten Tag, den sie bei uns verbringen durfte, verfiel sie gegen Spätnachmittag in eine Art Koma, aus dem sie nicht mehr erwachte. Und so schlief sie ganz ruhig ein und dämmerte hinüber in die andere Welt.

Tief in mir spürte ich zwar eine Erleichterung, aber es war kein leichter Abschied. Zu viele Erinnerungen verbanden mich mit diesem zarten, reizenden Wesen, das mich so oft mit ihren Spielchen zum Lachen gebracht hatte. Doch Freud und Leid geht mit unseren Ratten Hand in Hand und nach Wochen und Monaten der Freude folgt die Trauer um den Verlust dieser reizenden Hausgenossen. Aber es bleiben nicht nur Tränen zurück. Nein, unsere Erinnerung an die so lieb gewonnenen kleinen Freunde wird immer in uns wach bleiben und die Freude, die wir mit ihnen hatten, jeden Tag aufs Neue zurückbringen. Und es werden sich immer wieder neue kleine Pelznasen in unser Herz schleichen und dort für immer und ewig ihren Platz finden!

Wir sehen uns bald wieder, kleine Maggie! Ich weiß, Du und all die anderen werdet auf mich warten!

Bis bald mein Mäuschen!

Erika Weiß-Geißler

Februar 2000